Tilmann Moser

Johann Peter Hasenclever: Hieronymus Jobs im Examen

1840

Meine hochwohlgeborenen Herren, Professoren, Spectabilitäten, Magnifizenz, bitte wollen Sie gnädigst glauben, dass es pure Aufregung war, dass ich bei der verlangten Rezitation von Vergils Versen zur Landwirtschaft sträflich gestrauchelt bin und meine capacitas memoriae nicht zwingen konnte, mehr Zeilen korrekt zu reproduzieren. Und wollen Euer Ehren doch bitte nicht schmählich höhnen, ich hätte wohl mehr gezecht als gelernt: nichts davon ist wahr, sonst hätte mein hochverehrter Herr Vater längst seine wohllöbliche Zuwendung gekürzt. Es würde ihn seine Gesundheit, wenn nicht sein wertes Leben kosten, sollte er von einem solchen Gerücht amtliche Kenntnis erhalten. Ich bitte Euch untertänigst, ihm gegenüber von meinem unverzeihlichen Fehler nichts verlauten zu lassen, auch wenn er Euch dringlich befragt über meine Erfolge und akademischen Taten. Wie Ihr wisst, sind meine Zwischenberichte durchaus lobender Art, und meine in Latein geschriebene und fehlerlos vorgetragene Arbeit über die Quellen von Vergils unvergleichlicher Dichtung wurde mit hohem Lob gekrönt. Also bitte ich untertänigst um freundliches Erbarmen für eine in dieser altehrwürdigen Halle immer wieder vorkommende Schwäche der Kandidaten, die vor Eurer erlauchten Schar in Angst erzittern. Wenn man so vor Euer Ehren stehen muss, kann einem wahrlich das Kniezittern ankommen und ein innerliches furchtsames Stocken.

Ich weiß sehr wohl, dass in Euren Folianten nichts als die ehrwürdige Wahrheit zu finden ist, der ich mich immer ehrfürchtig anvertraut und mich der peinlich genauen Übung gehorsamen Lernens willig unterzogen habe. Bitte lasst Gnade walten. Ich weiß ebenso wohl, dass mein Vater nach bestandenem Examen der hohen Universität eine der Wissenschaft geweihte Dotation zukommen lassen wird. Wollen Euer Gnaden mir einen neuen Anlauf und Versuch der Rezitierung Vergils gewähren? Mir geht es schon viel besser nach meiner Rede.

Der Dekan, nach langer Beratung: Wohlan, es sei! Beginnt bei Vers achthundertneunzehn.

Jobs nicht gehaltene stumme Begleitrede:

Meine verfluchten altehrwürdigen Herren, die ihr tief aus dem vergangenen Jahrhundert stammt und die Wende zur Euch verhassten Aufklärung nicht mitvollziehen konntet. Betrachtet Eure schwer lesbaren Folianten, an die Ihr noch immer glaubt. Will man sie nutzen, muss man erst den Staub herunter blasen. Selbst die Schrift ist noch in alten Lettern gesetzt, sodass man Kopfweh fürchten muss, wenn man mehrere Stunden darin gelesen hat. Die schweren Ledereinbände sind abgegriffen, die Goldlettern der Frontdeckel sind längst abgeblättert, und ganze Generationen Eurer Weisheitsknechte haben Tintenkleckse und Spuren des Unmuts auf vielen Seiten unauslöschlich hinterlassen. Daneben findet man zierlich hingekritzelte Mädchennamen auf den Rändern und neidische oder höhnische Kommentare von späteren Studiosi, die versucht haben, auf diese Weise ihre Langeweile zu vertreiben.

Oh könnte ich auf Eure eingestäubten weißen Perücken einschlagen oder sie Euch herunterreißen, als die längst überflüssigen Zeichen Euer überholten Würde! Unter Euren überlangen und faltenreichen Talaren vermute ich den Muff von mehr als hundert Jahren, und nicht umsonst schreibt unser verehrter Dichter Friedrich Schiller von Eurem tintenklecksenden Jahrhundert, das ihr anhalten wollt für den Erhalt Eurer Macht. Worüber Ihr noch stolz selbst geprüft wurdet, ist vergangenes Wissen, nicht mehr brauchbar, und Ihr verstopft damit noch immer unser jugendliches Gehirn. Schande über Euch! Und wenn Ihr mir den Titel nicht gönnen wollt, ziehe ich um in eine der Städte, wo bereits der neue Geist weht, und schüttle den Foliantenstaub aus meinem Haar und von meinen Füßen. Adieu.