Tilmann Moser

Luca Signorelli: Kreuzigung mit Heiligen

1505-07, San Sepolcro, Pinacoteca Comunale

Trauerbegleitung

Maria Magdalena, rechts: Die trauernde und die gaffende, die entsetzte wie die blutrünstige Menge, die Soldaten wie die Henker, die römische wie die jüdische Obrigkeit sind abgezogen, nur die Getreuesten sind bei Kreuz geblieben. Maria ist, als sie mit uns zur Stadt aufbrechen wollte, immer wieder in Gram, Verzweiflung und Trauer zusammengebrochen. Dass auch du bei mir geblieben bist, hilft mir, meinen eigenen Schmerz zu ertragen. Du bist mir nahe wie nie, und so vertieft sich unsere Verbindung an der Stätte des Grauens, wie ein letztes Geschenk des Gekreuzigten. Du weißt, wie sehr die Begegnung mit dem Heiland mich aus einem leichtfertigen Leben in Reichtum und Muße herausgerissen hat. Du weißt, mit welcher Hingabe ich ihn begleitet habe auf seinen Wanderungen, bei seinen Predigten, bei seiner Erschöpfung, den Schmähungen wie bei den Wundern. Und er wusste immer, wie innig meine Seele bei ihm war, der Leib durfte es nicht, so sehr er sich manchmal gesehnt hat nach einer Berührung. Und nun halte ich seine Mutter im Schoß. Manchmal kommt sie zurück aus der Ohnmacht, dann trifft mich ihr Blick wie aus einer unendlichen Tiefe des Leidens, mich schaudert dann, und ich werfe mir immer wieder vor, dass ich nicht verhindert habe, dass sie uns nach Golgatha begleitet hat. Sie wollte ihm nahe bleiben, obwohl sie wissen musste, was sich an Entsetzlichem vor ihren Augen vollziehen würde.

Heilige Freundin: Liebste Magdalena, zermartere dich nicht mit Schuldgefühlen, es war ihr dringlichster Wunsch, es war ihr Schicksal, dem sie zu folgen bereit war, bis zur letzten Minute. Sie hatte Johannes an ihrer Seite, der sie gestützt hat, als sie zusammen zu brechen drohte. Auch er ist gegangen, hat sie uns, die Christus ihm in der Sterbestunde noch anvertraut hat als seine Mutter, uns übergeben, um ihr mit weiblicher Einfühlung beizustehen. Ich bin froh, dass ich bei euch bleiben darf. Ich spüre es, noch im Tod schaut er auf uns herunter, wie um uns zu danken. Marias Hand hat nach meiner gegriffen, als ich sie ihr anbot. Es ist noch Leben in ihr, ein Zucken der Hoffnung.

MM: Es ist mehr als Hoffnung, ich spüre ihren Atem und die feinen Bewegungen des Kopfes, es ist,als ob sie sich sanft ein wühlte in meinen Arm. Nun kann ich selbst weiterleben, weil ich trösten darf. Ich lüfte sanft den Schleier, um ihr Antlitz zu sehen. Ich habe keine Todesangst mehr um sie. Ich habe sie im Schoß wie wohl Mütter ihre Kinder im Schoß halten. Ein feiner Wärmestrom geht hin und her, aber er fließt mehr von mir zu ihr, ich darf die Gebende sein. Und mein Fuß strebt zu dir, wie um enger mit dir verbunden zu sein. Und dass du ihre Hand hältst, tut auch mir gut.Und wie feinfühlig du bist: du stützst ihren Ellbogen, damit der Arm nicht durchhängt und schließlich schmerzt. Wir tun unser Trostwerk des Haltens gemeinsam und stärken uns gegenseitig.

Freundin: Es dringen kaum Laut an mein Ohr, so sehr bin ich voller Andacht. Es ist eine andere Andacht, als wenn ich aufblicken würde zum Sohn Gottes, der so jämmerlich gestorben ist. Ihn umstrahlt bereits ein scheues Leuchten, als ob er von der Gnade seines Vaters angestrahlt würde. Und Maria ahnt noch nicht, dass Vater und Sohn sie zu sich rufen werden, um sie als Himmelskönigin zu krönen. Wir werden, wenn Maria in guter Pflege ist, an seinem Grab wachen. Ein gläubiger alter Mann will dem gemarterten Leib sein eigenes Grab anbieten. Ein Stein wird drüber gewälzt sein zum Schutz vor streunenden Tieren. Eine dunkle Weissagung aus der Schrift schwebt über dem Ganzen, als sei sein Kommen schon früh vorausgesehen worden.

MM: Liebe Freundin, ich fühle mich so fern jeder Theologie. Ich will gerade nicht Teil eines religiösen Ganzen sein. Ich will nicht an das Weltbewegende denken, an dem wir Teilnehmen mussten. Mein Herz war nun Jahr schon schmerzlich überfordert, es war alles fast unaushaltbar für mich. Ich will jetzt nur die Tröstende sein, obwohl auch ich unendlich viel verloren, auch an Schmähung, wie er. Aber wie könnte ich mich mit ihm vergleichen. Du schaust nieder auf ihre Hand, hast die Augen halb geschlossen. Ist ihre Hand, so matt sie ist, auch tröstend für dich, der du selbst zu wanken scheinst unter der Last der Verantwortung. Fühlst du, wie ein schützender Kokon uns umschließt? Kein Laut dringt mehr in unsere Szene, in mir ist eine ungeheure Stille, es zerreißt mich fasst vor Andacht. Man wird sie einst die Schmerzensreiche nenne, und ich fürchte, sie könnte fast untergehen unter der Last der Heiligkeit, die man ihr aufbürden wird. Oh könnte ich die Zeit anhalten in diesem Augenblick, wo wir noch nicht Teil der Kirchengeschichte sind, sondern nur mit ihr fühlen dürfen, und für sie, damit sie wieder zu sich kommen kann.

Freundin: Ich werde diese Hand in meiner nie vergessen. Und doch müssen wir eintreten ins kommende Welttheater. Wir sind hineingeworfen und wollten doch nur Menschen sein. Auch die hoffnungfrohen Jünger waren plötzlich nur noch angstvolle Menschen. In der Furcht, selbst verhaftet und gefoltert zu werden sind sie geflohen und zerstoben. Ist Menschen jemals ein gläubige Zuversicht so zerschmettert worden. Aber seltsam, hat er nicht immer gepredigt, er werde wiederkommen? Auch zu uns beiden? Fremd und verklärt? Und aus ungeheurer Höhe. Welche Bangigkeit. Ich besteht gleichzeitig aus Schmerz, Bangigkeit und Freude, voll frommer Verwirrung.

MM: Wie sehr teile ich deine Gefühle. Lass uns bald aufbrechen, in eine ganz andere Geschichte.