Tilmann Moser

Das Gespenst der Wechselwähler

Tiefenpsychologische Überlegungen

Tilmann Moser (2013)

Wechelwähler sind die große Herausforderung für alle Parteien, sie machen allen Parteien sowohl Hoffnung wie Angst, und alle intensivieren ihre Werbung wie die Erforschung ihrer Motive, genauso bei den schlimmen Nichtwählern: „Gehen Sie wählen, Wählen bedeutet demokratische Würde wie Verpflichtung. Auch Ihre Stimme zählt. Entziehen Sie nicht sich der Möglichkeit Ihrer Einflussnahme. Bringen Sie Ihre politische Verantwortung ein!“, und was der pädagogischen Aufforderungen mehr sind für die Wahlfaulen. So versuchen Sie, die Nichtwähler, als dauerhafte oder eine Sonderform der Wechselwähler, an die Urnen zu bringen. Sie bieten parteigebundene Hilfsdienste an für Alte und Gebrechliche, mit der notwendigen sanften Beeinflussung auf dem sonst zu beschwerlichen Weg zu den Kabinen. Die meisten Werbesprüche für die Nichtwähler klingen moralisierend, als ob das Wohl der Nation ohne sie in Gefahr wäre.

Anders bereiten die gefürchteten Wechselwähler Sorgen, zumal keiner weiß, wie der Trend unter den Unzuverlässigen verläuft. Auf der bewusste Ebenen nehmen die für die Wählerwerbung Verantwortlichen an, die Intensivierung der Werbung wie der Information könnte helfen, zuletzt mit optisch immer einnehmenderen Gesichtern, tatkräftig und vertrauenserweckend, um die Unzuverlässigen noch einzubinden in ihre Richtung. Auch hier rechnen die Politologen, Wahlstrategen, Wahlforscher und Kaffeesatzdeuter mit einer Typologie der Unzuverlässigen: Wahlmüdigkeit, Resignation, Enttäuschung über führende Politiker oder Parteien, veränderte Hoffnungen, veränderte Lebensumstände, Statusveränderungen, neue

Vermögensverhältnisse oder neue nationale oder internationale Ängste. Alle Einstellungen wären im Prinzip durch Information oder bessere Werbung veränderbar, wohlgemerkt vornehmlich auf der bewussten Ebene.

Aber viele Verunsicherungen, Kränkungen, Enttäuschungen und Umorientierungen verlaufen halbbewusst oder unbewusst, ja nach geistiger und seelischer Reife, Orientierungsfähigkeit, Toleranz für Verunsicherungen oder Anfälligkeit für neue Hoffnungen oder Katatrophengefühle. Im tiefenpsychologischen Jargon geht es Ambivalentoleranz oder die Fähigkeit, Unklarheiten in der Orientierung und den Gefühlen durchzustehen oder schwankend zu werden, Konflikte auszuhalten, „nachhaltig“ zu denken oder sich aufs Herkömmliche zu verlassen. Denn Veränderung macht Angst. Umgekehrt kann Angst entstehen, wenn Veränderung ausbleibt, weil sie ein Lebensprinzip geworden es sein kann.

Werbung und Information spricht diejenigen an, denen man ein vernünftiges Wählen zutraut und eine Zugänglichkeit für klare Entscheidungen oder Anfälligkeit für eingängige und einfältige Slogans. Unter diesen lassen sich alle Kürzestsprüche auf den auf uns alle einhämmernden Sichtplakaten zusammenfassen, die manchmal an Vertrauenswerbung für Babynahrung erinnern. Aber auch die visuellen Eindrücke der optischen Sympathiewerbung sind keine Garantie für parteilichen Gehorsam: die musmaßliche Wirkung auf Jüngere oder Ältere, auf Frauen oder Männer ist schwer berechenbar, und die Schwankenden mögen nicht zuletzt vom Trommelfeuer der Werbung beeinflusst sein für einen Wechsel der Kauflaune oder der begehrlichen Neuerientierung, die deren oberstes Ziel ist.

Aber was sind die tieferen seelischen Ursachen für Beeinflussbarkeit, für Unzuverlässigkeit, Kränkbakeit, Rachsüchtigkeit und Anfälligkeit für wellenartigen Überdruss, am Urlaubsziel wie an einer Partei? Was erzeugt eine Wechselstimmung, und wer ist anfällig für sie? Für den Psychoanalytiker sind frühe Familienschicksale ein wichtiger Faktor auch für späteres unbestimmtes oder schwer bestimmbares politisches Verhalten. Es gibt genug Familien, in denen spätere Unzuverlässigkeit, in Freundschaft, Ehe, beruflichem und politischem Verhalten, lebensbestimmend geprägt werden. Anhänglichkeit gilt als Gefahr für viele, rasche Abbrüche von Bindungen erscheinen dann als gängig, wenn nicht sogar als lebensrettend. Andere Menschen leben eher aus dem Bauch heraus, stimmungsabhängig, oder sind mehr intellektuell orientiert, und auch das kann abhängig sein von kindlichen oder jugendlichen Erfahrungen und deren verunsichernden oder bestätigenden Wirkungen. Der eine Wechselnde kann stolz sein auf seine gedankliche Anstrengung, die ihn zum Wechsel veranlasst, und mit der er ihn wortreich begründen kann, der Andere verlässt sich auf Stimmungen, mit deren Befolgung er die unterschiedlichesten Erfahrungen gemacht habe, bis er sich schließlich ruckhaft und endgültig neu entschließt, sich ihren Veränderungen zu überlassen, ohne sie gedanklich rechtfertigen zu können. Das Selbstvertrauen bei Entscheidungen gründet sich auf oft auf früheste Bestätigungen durch Eltern und wichtige „Bezugspersonen“, die lebenslang prägend sein können und zu einer Charakterformationen werden. An denen prallt verstärktes intellektuelles oder emotionales Trommelfeuer ohnehin ab.

Die tiefste affektive, in der Verfestigung pathologische Charakterstruktur ist die sogenannte Neigung zu borderline-Erleben oder -Verhalten. Es ist die institutionalisierte Instabilität der Gefühle und Haltungen, die aus unzuverlässigem oder destruktivem Familienhintergrund stammt. Die tiefenpsychologische Forschung ist sich sicher, dass diese Struktur die Hysterie oder die Zwanghaftigkeit als Epochenstruktur abgelöst hat und neben der Depression die affektive Instabilität das kollektives Kennzeichen der Zeit ist. Therapeutisch mussten für den seelischen Erkrankungstyp neue Verfahren entwickelt werden, und sie sind langwierig und kostspielig, weil die Prägungen tief im Seelenleben verankert sind und erhebliche Widerstände gegenüber der Heilung bieten.

Was ist die die politische Folge? Eine ganze Reihe dieser sich summierenden charakterlichen Strukturen und Schädigungen ist für Aufklärung, Orientierung, Überzeugungsarbeit, Werbung oder Propaganda kaum noch erreichbar. Entscheidungen folgen viel tieferliegenden Vorentscheidungen oder Dispositionen, die auch von Augenblickslaunen viel abhängiger sein können als von gefestigten Haltungen, ob konservativ geprägt oder flexibel. Die nächsten Wahlen dürften also fast konstant von einem höheren Prozentsatz von Wechselwählern geprägt sein auf der psychologischen Ebene, politisch allerdings verstärkt durch eine unabweisliche Abnahme von fester Parteienbindung durch vielfältige demographische, ideologische, aufklärerische und gegenaufklärerische Trends und Verschiebungen. Diese Einflüsse sind kumulativ wirksam und schwer berechenbar und führen zu einer merklichen politischen Verunsicherung, deren eine Folge eben die vermutlich unaufhaltsame Zunahme der Wechselwähler ist, es sei denn, es komme, entgegen dem gegenwärtigen Trend zur geringeren programmatischen Annäherung und Ununterscheidbarkeit der Parteien, wieder zu einer erhöhten ideologischen Polarisierung der Programme und Bindungen.

In den zwanziger Jahren sind politische und neuartige seelische Verunsicherungen gleichzeitig aufgetreten, und Menschen mit der beschriebenen Instabilität der Gefühle wie der schwankenden politischen Orientierung haben sich zu einem Führer und seine Partei geflüchtet, die Halt, Rettung in sichernde seelische Eindeutigkeit und die Erlösung von Zweifel, Angst und Verwirrung anbot. Riesige, scheinbar ideologisch gefestigte Gruppen sind von einer in die nächste Diktatur getaumelt. Wechselwählerschaft war weniger ein individuelles als ein kollektives Phänomen, aber wichtige tiefere Ursachen waren dieselben: weniger eine durchdachte Wahl als ein Rettungsversuch aus seelischer Labilität, Unreife, mangelnder Konflikttoleranz, Suche nach eindeutiger Stärke und Zugehörigkeit gegen das innere Chaos und psychische Verwahrlosung in Millionen von Familien. Brüllende und grausame Stärke bietet heute keine Partei mehr an, nicht einmal ideologische Geschlossenheit. Aber es gibt eine stille Ähnlichkeit in der seelischen und politischen Verlorenheit vieler Menschen, die aus innerer Wahllosigkeit Wechselwählern werden. Aber dies gilt nur für die unreflektiert Verunsicherten mit ihrer tieferen inneren Heimatlosigkeit.