Tilmann Moser

Lektüren eines Psychoanalytikers

Romane als Krankengeschichten. Tiefenpsychologische Deutungen.

Von Tilmann Moser (2013)

Einleitung

Fast zwanzig Jahren sind vergangen seit der Niederschrift des ersten Bandes der „Romane als Krankengeschichten“ mit Werken von Peter Handke, Martin Walser und Christoph Meckel. Hat sich die Thematik der diesmal als Krankengeschichten “diagnostizierten“ Romane. Kaum. Auch Handkes „Die Stunde der wahren Empfindung“ hatte ich damals als den inneren Monolog eines Borderline-Patienten gelesen, der seinen trüben und wechselnden Stimmungen verfallen war und die Welt wie die Mitmenschen durch die Brille seiner präzisen Wahrnehmungen wie seiner Verzerrungen sah.

Verändert haben sich die mit den Jahren nicht die Leiden der Helden, wohl aber die Genauigkeit der Rückführung ihrer „Störungen“ auf die inzwischen gründlicher erforschten Bedingungen ihrer Entstehung. Die gilt vor allem für die deutlich „pathologischen“ Strukturen der Personen bei Samuel Beckett und Wilhelm Genazino. Wie üblich ziehe ich keine Rückschlüsse auf die Persönlichkeitsmerkmale der Autoren, sondern betone meinen Respekt vor der unglaublich einfühlsamen Sensibilität, mit der sie ihre Helden charakterisiert haben. Vermutlich befähigt aus ihrer eigenen Lebensgeschichte haben sie sich den Zugang offen gehalten zu Erlebnisformen, die zwar in jedem Menschen angelegt sind, aber häufig durch mildernde, korrigierende oder sogar rettende Phasen des Lebens überformt werden und zu einer Existenz führen die weniger an einem permanenten Abgrund ausgehalten werden muss. Die Radikalität der Verstörungen der geschilderten Menschen bei Samuel Beckett, Wilhelm Genazino, Philipp Roth, Friederike Jelinek und Fred Uhlmann stellen dennoch Bausteine einer Diagnostik der Moderne dar, die in einem so gewaltsamen Widerspruch steht zu den Schaubildern gelungenen Lebens, wie sie die Werbung, politische Propaganda und gängige Wunschbilder von Zufriedenheit und Glück an die Wand malen. Im Feuilleton wie in der Wissenschaft wird derzeit über den Begriff des Glücks, und wie man es, wenigstens in der Vorform der Zufriedenheit, selbst erhöhen oder gar steuern kann. Das klingt dann immer so, als wäre es doch noch erreichbar, wenn man bestimmte Voraussetzungen beachtet oder kontrolliert, sich mäßigem Konsum anvertraut, Freundschaften pflegt, Sport betreibt, bestimmte Pillen verzehrt, doch nicht der Drogensucht verfällt, Alkohol nur mit Maßen trinkt, bei Verlusten durch Trennung oder Todesfall in Selbsthilfegruppen nach neuesten Ratschlägen richtig trauert, und was es sonst noch an vorteilhaften Bedingungen für happyness gibt.

Die Personen bei Beckett, Genazino und Jelinek verfolgen ebenfalls ihre oft sinnlosen, skurrilen oder pathologischen Selbsthilfeprogramme zum auskömmlichen Überleben, doch sie helfen nicht mehr, sondern führen im Gegenteil oft genug in tiefere Verstrickungen ins seelische Elend. Aber allen dreien sind ist gemeinsam: Traumatisierungen in frühester Kindheit, die dazu führen, dass spätere Lebensereignisse und Lebenschancen bereits verzerrt durchlebt werden und in eine destruktive Abwärtsspirale führen. Deshalb stehe ich auch nicht an zu sagen: in den letzten Jahren habe ich durch die Lektüre ausgewählter Romane mehr über die Nöte meiner Patienten gelernt als durch wissenschaftliche Abhandlungen über “frühe Störungen“, die gar nicht mit erlebender Einfühlung rechnen, sondern nur die kategorisierende Intelligenz ansprechen. Diese Romane verlangen, dass man sich lesend mit den leidenden Personen identifiziert, als seien es Mitmenschen aus unserer näheren Umgebung, die uns bei längerer Bekanntschaft ratlos und hilflos hinterlassen. Mir selbst ging es so, dass ich manche Passagen der Texte nur aushielt durch eine begleitende diagnostizierende Distanzierung, und so wie der Psychotherapeut sich das Leiden seiner Patienten nur im Stundentakt seines Berufs zumutet, so musste ich mit manche Texte beider Lektüre einteilen in gerade noch erträgliche Portionen und habe dies auch befreundeten Lesern so angeraten, weil sie über Niedergeschlagenheit und schlechte Träume klagten bei nicht in Selbstfürsorge eingeschränkter Lektüredauer.

Die tiefenpsychologischen Diagnosen der Romane als Krankengeschichten sind ein Versuch, erlittene Leseerfahrungen auch für nicht professionelle Literaturliebhaber verstehbar zu machen und ihre oft unmutig und irritiert machenden Lektüreerfahrungen auf einen erlebnisgesättigten Begriff zu bringen. Sie könnten einen Fundus von „begreifender Rezeption“ vermitteln, die auch für künftiges Lesen verstörender Texte Mut macht.

Pubertätswirren und politische Katastrophe

Zu Fred Uhlmanns Roman „Der Wiedergefundene Freund“

Lange habe ich gezögert, ob ich einen Text über diesen Roman mit dem Erfolg in vielen Sprachen, eine zunächst tief anrührenden und später tragisch endende Geschichte zwischen zwei siebzehnjährigen Jugendlichen einreihen dürfte in einen Band mit dem Titel “Romane als Krankengeschichten“. Doch bei wiederholtem Lesen wurde mir deutlich, dass sich durchaus von einer gestörten, wenn auch hinreißenden Pubertät der beiden Sprechen lässt, erst recht, wenn man sich in den seelischen Untergrund der Familien und die Beziehung der beiden zu ihren Eltern und ihrer Familientradition vertieft. Es kommt nämlich auf der Seite der lange ausgeblendeten Politik eine katastrophale Entwicklung hinzu, sodass man von einer Verzahnung der individuellen wie der politischen Störungen oder Pathologien sprechen kann.

Wir lesen von zwei vehement idealistischen, aber zutiefst einsamen Jugendlichen, die sich finden und in einen Glückstaumel der Nähe geraten, in dem sie sich über alles austauschen, was zutiefst bildungsbürgerliche junge Menschen, ausgenommen die eigene Familie, die Politik und Mädchen. Am Ersten hinderte sie die Scheu, am Zweiten die durch ein altertumsfixiertes, fast weltfremd abgeschirmtes Elitegymnasium geförderte Ahnungslosigkeit, am dritten ihre noch bubenhafte Spätentwicklung, die der eine nur „naiv“ nennt, für die man aber in den Biographien auch gute Gründe findet.

Sie wissen und proklamieren sehr früh, dass sie füreinander geschaffen scheinen, die zitternde Werbung des jüdischen Jungen gekommt man fast leidvoll mit, während der hochadlige Grafensohn sich anmutig passiv entdecken lässt, aber die Freundschaft bald ebenfalls als eine Erlösung erlebt aus steifem und aristokratisch verblendetem Clan aus Adels- und Diplomatenmilieu. Fred, der bildungseifrige Arztsohn, knickt fast ein vor Ehrfurcht vor der Schloss-Welt des Freundes, in die er aber erst später überhaupt einen eingeschüchterten Eintritt erlebt; Konradin von Hohenfels erlebt im Haus de Freundes ein Klima von Herzlichkeit und Geborgenheit, bürgerliche Selbstgewissheit und Menschenfreundlichkeit, wenn man auch bei der Begegnung des Arztvaters mit dem jungen Grafen eine Standesdifferenz-Groteske erlebt: der nämlich schlägt vor dem Jugendlichen die Hacken zusammen, regrediert, um Selbstwertgefühl ringend, auf seine Militärerfahrungen im ersten Weltkrieg und veranstaltet ein ridiküles Name-dropping mit ihm entfernt bekannten Adligen und Heerführern, das die Beziehungen Freds zu seinem Vater aus Scham über dessen Gehampel dauerhaft zerstört. Und Konradin weiß sehr wohl, dass seine Familie schon vor Barbarossa bedeutend war, versucht diese Geschichte aber herunter zu spielen, um seinen Freund zu schonen und Gleichrangigkeit im Geist zu zelebrieren.

Ein wichtiges Bindeglied sind Hölderlingedichte, während Moderneres stolz verschmäht wird. Jeder möchte für den Andern streben, um die Tiefe der Zuneigung zu dokumentieren. Schwäbisches Land und Leute, Schlösser und Burgen, der Frühlingsblütenzauber und die Wanderungen werden schwärmerisch vermerkt, die beiden feiern einen Zustand eines erhobenen Lebensgefühl, und lieben und verehren sich doch bereits über einem sowohl familiären wie politische Abgrund. Während Fred am Tage der ersten Begegnung, längst zu klug, um sich in der Klasse nicht zu langweilen, sich in der Bank träumend sich ab und zu ein Haar“ ausreißt, um nicht ganz einzuschlafen“, erfolgt der Auftritt des jungen Grafen wie eine Epiphanie: „Wir starteten ihn an wie ein Gespenst“, der perfekt angezogene, leicht hochmütige Aristokrat schlägt alle einschließlich des Lehrers, damals noch Professor genannt, in Bann.

„man konnte kam glauben, daß er nichts anders war als ein neuer Klassenkamerad.“ Für Fred erscheint er wie ein Außerirdischer, „als käme er von einem fremden Stern.“ Und trotzdem weiß er sofort: „Jede seiner Bewegungen beschäftigte mich: …Ich betrachtete sein kühnes, gutgeschnittenes Gesicht – kein Anbeter hätte die schöne Helena eindringliches betrachten und von seiner eigenen Unwürdigkeit mehr überzeugt sein können. Durfte ich wagen, ihn anzusprechen?“ Und schon überfällt ihn der ernüchternde Vergleich mit dem Jungen aus jahrhundertealter abendländischer Geschichte: „In welchem europäischen Getto drängten sich meine Vorfahren, als der Stauferkaiser Anno von Hohenfels seine juwelengeschmückte Hand reichte? Was hatte ich – Sohn eines jüdischen Arztes, Enkel und Urenkel eines Rabbi und einer Reihe von Krämern und Viehhändlern – diesem goldhaarigen Jungen zu bieten, dessen Name genügte, um meine Ehrfurcht zu wecken?“

Auch die anderen Schüler „schien er verhext zu haben. … Er war eben anders.“ Die Klasse ist von Cliquen und intriganten Rangkämpfen durchzogen. Fred hatte noch keine Freund, „der meinem romantischen Freundschaftsideal entsprach, … niemand, für den ich hätte sterben mögen und der mein Verlangen nach völligem Vertrauen, nach Treue und Selbstaufopferung begreifen konnte.“ Freds exaltierte Sehnsucht hat tiefere Gründe, und dann erfolgt ein Ruck zu Beginn des nächsten Kapitels,ohne weitere psychologische Begründung und Fundierung in der noch ganz offenen Realität: „Ich wußte also, daß er mein Freund sein würde. Alles zog mich zu ihm hin.“ Dessen sämtliche Eigenschaften „überzeugten mich, daß ich endlich jemanden gefunden hatte, der meinem Ideal entspracht.“ Noch ist der Freund nicht gewonnen, „Aber ich fühlte, dass ich hervorstechen mußte.“ Er wird zum Turnstar, was auch die Lehrer in Bewunderung mitreißt, er schafft eine Glanznummer am Reck und sieht: „daß seine Augen auf mich gerichtet“ waren. „Ich spürte keine Furcht, ich war nur noch Wille und Wunsch, entschlossen, es für ihn zu vollbringen.“ … „Ich stand ganz still und sah ihn an.“ Konradin durchläuft ähnliche, aber weniger stürmisch Prozesse.

Sie werben mit ihren exotischen Münzsammlungen umeinander. Beide sind gerührt, dass sie beim anderen die gleiche Schüchternheit entdecken, und dann kommt ein verräterischer Satz:“daß fortan mein Leben nicht mehr leer und langweilig sein würde, sondern Fülle und Hoffnung versprach.“ Beide Begriffe, leer und langweilig“, könnten auf eine latente Depression hindeuten, die durch die Schwärmerei und homoerotische Zuneigung überbrückt wird. „Aus einem Bettler war ein Krösus geworden.“ Mutters scheue Zärtlichkeitsversuche weist er hinfort durch „halsstarriges Verweigern“ ab. Fred fürchtet, der Freund teile nicht seine Zuneigung, könnte ihn schon über Nacht wieder vergessen. Und dann eine erste Ahnung: „Vielleicht hatte er seinen Eltern von mir erzählt, und sie hatten ihn gewarnt, sich mit einem Juden einzulassen.“ Aber: „Alle Befürchtungen erwiesen sich als grundlos.“ „Ich schämte mich, ihm mißtraut zu haben.

Von Stund an waren wir untrennbar. … Die nächsten Monate waren die glücklichsten meines Lebens.“ … „Vor Fragen dieser wirklichen und ewigen Bedeutung verblaßte die Existenz solcher vergänglichen und lächerlichen Figuren wie Hitler und Mussolini.“ Sie zerstreiten sich allerdings über Glaubensfragen: Fred ist aggressiv bekennender Atheist, Konradin berät sic mit seinem Beichtvater über die ihn verstörenden Gespräche. Selbiger warnt ihn vor Fred unter Hinweis auf „weisere und klügere Männer“ wie „Priester, Bischöfe und Heilige“ und berichtet: „Der Pfarrer habe alle Fragen vollständig und befriedigend beantwortet.“ Gemeinsames „erhebendes“ Betrachten des Sternhimmels bringt sie einander wieder näher.

Die heterosexuelle Unreife der beiden spricht für sich: „Für uns waren Mädchen höher Wesen von märchenhafter Reinheit, denen man sich nur als Troubadour nähern durfte, … in scheuer Anbetung … Fred bekannte Mädchen, „zwei Kusinen, alberne Teenager, die nicht im mindesten Andromeda oder Antigone glichen.“ „Unsere Probleme suchten wir selbständig, ohne Beistand zu lösen. Nie fiel uns ein, unsere Eltern um Rat zu fragen. Nachunserer Überzeugung gehörten sie einer anderen Welt an … Wir sprachen kaum über sie. “Ich wußte, daß sein Vater Botschafter in Griechenland, in der Türkei und in Brasilien gewesen war. Mehr wollten wir eigentlich nicht wissen.“

Fred litt darunter, dass Konradin zwar in seinem Haus gern verkehrte, ihn aber nie zu sich nachhause eingeladen hatte. In moderne Jugendsprache war er darüber längst „angefressen“. Und dann geschieht es: er betritt einen märchenhaften Palast, der ihm die Sprache verschlägt.

Dazwischen kurz eine Reflexion Freds über seinen bürgerlichen, aufstiegswilligen Vater mit einem bescheidenen Haus in wohlhabender Gegend: „aber mein Vater war entschlossen, es eines Tages diesen Großbürgern gleichzutun.“ An ihm scheint der Ehrgeiz genagt zu haben, aber die Schlosspracht war für Fred überwältigend, besonders die Ahnentafeln: “ich konnte mich nicht von Barbarossa herleiten - aber welcher Jude konnte das?“ Es bleibt nur ein schwacher Trost: für seinen Clan fehlten die Aufzeichnungen. Aber: “Siekonnten aus allen Teilen der blühenden Diaspora kommen. „Es war nicht auszuschließen, daß sie schon vor den Hohenfels hier gelebt hatten.“

Freds Familie war mehr als integriert, stolz auf ihr Deutschtum, der Vater antizionistisch bis zum Wutausbruch gegen einen Spendensammler für Palästina. Er plädierte sogar dafür, „daß die Juden vollständig in den Deutschen aufgehen sollten, falls dies ein dauerhafter Gewinn für Deutschland wären.“ Für den Vater waren „die Nazis nicht mehr als eine Hautkrankheit an einem gesunden Körper.“ Er hatte öffentliche Ehren erfahren, auch von einem „arischen“ Sängerchor zu seinem Geburtstag.

Freds Mutterbindung scheint, alle Widerborstigkeit zu Trotz, sehr tief, ja regressiv gewesen zu sein, jedenfalls litt er als Kind unter gravierenden Trennungsproblemen, und als er Konradin zum ersten Mal einlud, schämte er sich plötzlich seiner Mutter und versuchte sie beim Aufstieg in sein Zimmer zu umgehen, … aber „mehr noch als meine. Eltern verachtete ich mich selbst.“ Später offenbarte Vaters Groteske bei der Begrüßung dessen geringen Selbstwert vor dem jungen Adligen. „War er wie ich der Hohenfels-Aaura erlegen?“ „ … nie wieder würde er derselbe Mann für mich sein, nie wieder konnte ich ihm in die Augen sehen, ohne Trauer und Scham zu fühlen, eine Scham darüber, dass ich mich schämte.“ Doc Konradin „war bei uns entspannt und glücklich … „ Konradin hatte Fred immer vor dem üppigen eisernen Hoftor verlassen. „Jedesmal erlitt ich dieselbe Pein der Trennung und des Ausgeschlossenseins.“, die Barrieren „schienen für ewig aufgerichtet.“ Bei der ersten Einladung erblickte er Konradins Mutter durch einen offene Tür: Sie erschien ihm hinreißend wie eine Fee, aber gleichzeitig sah er auch undeutlich ein Hitlerbild an einer Wand, verdrängte es wieder, bis er entdeckte, dass Konradin ihn nur einlud, wenn die Eltern abwesend waren.

Und dann die Katastrophe bei einem feierlichen Opernabend mit Furtwängler am Pult der Auftritt: der hoheitlichen Hohenfelds, ein fürstlicher Einzug der Familie, vor der sich eine Gasse von ehrfürchtigen Bewunderern öffnete. Aber Konradin würdigte Fred keines Blickes. „Plötzlich sah er mich, deutete jedoch nicht einmal an, daß er mich erkannt hatte.“ Der Schock saß tief, „Mit dem einem Juden angeborenen uralten Instinkt wußte ich, daß der Dolch schon gezückt war, der mein Herz treffen würde.“ Fred meinte sogar, so sah ich meiner Exekution entgegen.“

Zwar windet sich Konradin vor Scham am anderen Morgen, „während Fred sich „so zerschlagen fühlte wie nach einer langen Krankheit.“ Er fühlte sich wie ein Aussätziger, auch als Konradin am Abend doch noch erblickte, aber als Höhepunkt der Demütigung musste Fred erkennen, dass Konradins leicht erhobene Grußhand pervertiert wurde dadurch, dass Konradin die Geste, ihr Ziel vertuschend, sie zunichte machte: er führte sie zum Revers, als wolle er dort ein Stäubchen wegwischen. Vorbei.“

Fred schreit ihn an in der Klasse: „Ich bin so viel wert wie alle Hohenfels dieser Welt. Von niemandem … lass ich mich demütigen, von keinem König, keinem Fürsten und keinem Grafen!“

Nun will auch Konradin die Tiefe seiner Freundschaft beteuern. Zuerst nennt er Fred abwehrend „überempfindlich“ und dessen Empfindungen „Phantastereien“, doch dann bricht aus ihm eine tiefe Klage aus: „Ich war ebenso allein wie du, und wenn ich dich verliere, verliere ich den einzigen Freund, dem ich vertrauen kann.“ Dann gibt er sich einen Ruck, weil er das streng gehütete Familiengeheimnis preisgibt: „Meine Mutter stammt aus einer vornehmen, ehemals königlichen polnischen Familie, und sie hasst die Juden. … sie galten weniger als ihre Leibeigenen, waren Parias, Unberührbare., der Abschaum der Menschheit.. Sie verabscheut die Juden, … obwohl sie nie einen näher kennengelernt hat. … Sie sieht dich im Dienst des Weltjudentums, … und in mir ein Opfer deiner teuflischen Machenschaften. … Du sprichst schon wie ein Jude.“ Der Vater erscheint als gleichgültig liberal, nur wenn Konradin eine Jüdin heiraten wollte, gäbe es Probleme.

Später Konradin schrie Fred an: „Was kann ich für meine Eltern!“ … „Ich habe dies alles vor dir zu verbergen gesucht …“Ich hätte den Mut haben müssen, dir das früher zu sagen, aber ich war zu feige. … Du erwartest zuviel von einem gewöhnliche Sterblichen.“ Seine Zerrissenheit ist offensichtlich, er fand keine Brücke zwischen Freundschaft und antisemitischem Fanatismus der Mutter. Er drehte sich am Haustor noch einmal um „und winkte mir, aber ich winkte nicht zurück. … Wir wussten beide, daß nichts mehr sein würde wie vordem und daß unsere Freundschaft dahinzuschwinden begann wie unsere Kindheit.“

Zwei vereinsamte Jugendliche auf instabilem Familienuntergrund, mit höchsten romantischen Idealen, wie zu ihrer Rettung verinnerlicht, stürzen aufeinander zu, finden Boden nicht in sich selbst, sondern in der Liebe des Anderen. Ihre hohen Ideale haben sie ihrer Umwelt entfremdet, sie sind süchtig geworden nach Erlösung in einer gegen die Welt abgeschirmten Freundschaft. Freds Familie täuschte sich über Deutschland und ihre Integration, der durch und durch bürgerliche Vater hat einen militaristischen Seelenuntergrund und ist noch infiziert von feudalistischer Unterwürfigkeit. Die Hohenfelsfamilie hat nicht nur keinen Blick für den Sohn, außer wenn er das Repräsentieren lernt, lernt und beherrscht, er lebt in einer noch viel tieferen Einsamkeit als Fred. Der Schriftsteller, von den Eltern zu seiner Rettung nach den USA zwangsemigriert, während sie selbst sich später mit Gas umbrachten, als die Demütigungen durch die DA lebensbedrohlich wurden, hängt noch als reifer Mann an der Verklärung des damaligen Stuttgarter Lebens und der rettenden und zerstörten Freundschaft und schreibt sie i hochfliegenden Sätzen nieder, während er bekennt, dass die politische Bedrohung ihn nur in „der Bezeichnung ´dunkle Mächte` erreicht hatte, die der neue und fanatische Geschichtslehrer an die Wand malte. Uhlmann gibt aus der Erinnerung dessen verstiegene Rassenlehre seiner Antrittsrede in der Klasse wieder. Er gab, ihn komplett ausgrenzend, den Rat, nach Palästina zu verschwinden. Auf manchen Revers der ehemaligen Klassenkameraden erschienen kleine Parteiabzeichen. Der lange grausame Prozess der Entwurzelung hatte schon begonnen, und die Lichter, die meinen Weg erhellt hatten, verblaßten.“

Neben einem Teil des Schmähgedichts zum Abschied aus der Klasse von den gemeinsten Hetzern druckt der Autor einen Abschiedsbrief von Konradin ab, unter anderem zu seiner Emigration: „Ich kann mir vorstellen, wie bitter Dich das ankommt und wie unglücklich Du Dich fühlst..“ Und dann kommt das Bekenntnis zu Hitler, in dem man spürt, wie eng er noch an die politischen Ansichten seiner Eltern gebunden ist: „ES wird ein neues Deutschland sein unter der Führung des Mannes, der dabei ist, unser Schicksal in die Hand zu nehmen, und der für Jahrhunderte das Schicksal der Welt bestimmen wird. Es wird Dich erschrecken, daß ich an diesen Mann glaube.“ … „nur durch ihn kann Deutschland die moralische Überlegenheit zurückgewinnen, die es durch eigene Torheit verspielt hat. … „ich sehe keine andere Hoffnung für Deutschland. Wir haben nur eine Wahl: zwischen Stalin und Hitler“. Mit seiner Mutterzusammen hörte er eine Hitlerrede in München: „sobald man ihn sprechen hört, wird man hingerissen von der reinen Kraft seiner Überzeugung, von seinem eisernen Willen, seiner dämonischen Intensität und seinem prophetischen Scharfblick.„ Und er verhehlt nicht seine Nähe zur Mutter, bei der er endlich Gefühle sieht: „Als ich mitmeiner Mutter wegging, liefen ihr die Tränen über das Gesicht, und sie sagte immer wider: ´Gott hat ihn uns gesandt.`“ Und verbindet das mit den guten Wünschen: „Es freut mich, daß Deine Eltern bleiben wollen. Selbstverständlich wird niemand sie belästigen – siekönnen hier in Frieden und Sicherheit leben und sterben.“ Und ganz parallel dazu heißt es weiter, fast trotzig gegen den Atheisten gesprochen: „Du hast mich denken gelehrt, denken und zweifeln, und durch den Zweifel hindurch habe ich zu unserem Herrn und Retter Jesus Christus zurückgefunden.“

Damit war auch der ideologische wie der religiöse Bruch vollzogen. Der Autor bekennt zum Schluss, dass er sich trotz seines sozialen und ökonomischen Erfolgs in den USA , lange nicht ans Schreiben traute: „es „fehlt mir der Mut, weil ich kein Selbstvertrauen habe. Im innersten meines Herzens halte ich mich für einen Versager.“ Ist es die Brüchigkeit der Elternbeziehung, hinter der gutbürgerlich-liebevollen, von Vaters Seite hilflosen Zuwendung, die plötzliche Zerstörung von dessen Idealisierung, der Verrat des Freundes, es dürfte um eine Mischung von Konflikte gehen, die ihn zu diesem harten Urteil über sich selbst führen.

An seiner Bitterkeit gegenüber den Deutschen scheint nicht zu rütteln gewesen zu sein: “Seither habe ich nach Möglichkeit vermieden, mit Deutschen zusammenzutreffen, und habe kein einziges deutsches Buch mehr aufgeschlagen, nicht einmal Hölderlin. Ich habe versucht, alles zu vergessen.

Konradins Brief hätte auch von anderen, zunächst gläubigen Männern (und Frauen) aus dem Kreis um Staufenberg geschrieben werden können, die spät auf die Vernichtung des Tyrannen drängten. Denn eines wird Fred schlagartig und nach höchst zögerlichem Suche nach dem Schicksal des Freundes deutlich: in dessen Charakter hatte er sich nicht getäuscht, und damit war der ihm doch treu geblieben trotz dem frühen Einbruch der Politik in die Zuneigung. Im Gefallenenverzeichnis seiner alten Schule findet er den lapidaren Satz: „von Hohenfels, Konradin, beteiligt am Attentat auf Hitler. Hingerichtet.“

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