Tilmann Moser

Otto Dix: Streichholzhändler

1920,  Staatsgalerie Stuttgart

Schreie eines Verbitterten

Dix hat den Moment festgehalten, wo Passanten verschreckt weglaufen. Sie sind im eiligen Aufbruch festgehalten, fast wie startende Läufer nach vorne gebeugt. Es steht aber nicht ein Ziel vor ihnen, sondern nur der Ort und der Gegenstand und die malerisch fast hörbaren Laute der Wut, vor denen sie fliehen. Ihr feines Schuhwerk könnte bei der Dringlichkeit der Flucht noch Abgleiten vom fein gegliederten Boden des Trottoirs, und dann lägen wie verängstigt, weil für einen Moment festgenagelt und unendlich lächerlich am Boden, dem Gespött weiterer Passanten ausgeliefert am Boden, denen ein vielleicht ebenso verbitterter Dackel schon entgegen kläfft. Hämischer Spott des Schreienden würde sich über sie ergießen. Die Szenbe ist auf eine fast aufdringliche Weise sexualisiert, weil der Blitzstart der Frau im grünen Gewand den Ausblick auf auf ihren Spitzenunterrock freigibt. Noch ehe wir also ahnen oder vermuten können, was der Verstümmelte schreit, sind wir sofort einbezogen in die dramatische Wirkung seiner Laute.

Was könnten sie ausdrücken? „Ihr verdammten, hartherzigen Geizkrägen!Ihr feinen Pinkel, die ihr keine Armut kennt! In welchen unbeschädigten Villen habt ihr in Saus und Braus den Krieg und den Hunger überlebt? Steht eure Dienerschaft schon wieder stramm und fragt nach euren Wünschen? Studiert die Köchin euren raffinierten Speiseplan? Kuriert er Doktor bei dieser Herbstkälte bereits euer erstes Hüsteln? Wisst ihr überhaupt, wie man das Feuer im Ofen entzündet? Dass man dafür Streichhölzer braucht, die für Sekunden einen Hoffnungsschimmer einfalten, bevor sie rasch verglühen? Hat euch eine gütige Mutter das Märchen vom „Mädchen mit den Schwefelhölzern“ vorgelesen, und es hat euch ein wenig gegruselt in der Wärme eures Salons? Wer salbte euch das aufgeschürrte Knie, wenn ihr einmal hingefallen seid, als ihr euren bunten Reifen durch den Park getrieben habt? Wer brachte euch schön angezogen in den teuren Kindergarten und holte euch tröstend wieder ab, wenn ihr eure Mama zu lange vermisst habt? Früh verwöhnte Pack! Schert euch zum Teufel, wenn euch mein Elend die Sonntagslaune verdirbt! Der Blick einer überlasteten Krankenschwester im frontnahe Lazarett war lange Zeit der einzige Überlebenstrost. Neben mir im Verwundetensaal sind genug Kameraden einfach abgekratzt. Missfällt auch das Wort? Ich kenne noch andere Wörter, die euch in die Flucht schlagen könnten: Verreckt, verblutet, zerfetzt, verwest, halbiert, ohne Kopf und ohne Rumpf, im vollgelaufenen Bombenkrater erbärmlich ersoffen oder am Giftgas erstickt. Stören euch solche Worte nach eurem bigotten Kirchgang mit dem gesungenen Dank, dass ihr davongekommen seid?

Die gerade verhallenden Kirchglocken rufen mir eine andere Szene ins Gedächtnis mit dem feisten Militärpfarrer, der der angetretenen Kompanie zurief: „Helm ab zum Gebet!“, und am Abend waren wir kaum noch die Hälfte der Mannschaft, der Rest im im Stacheldraht in der rauchenden Trümmerlandschaft. Trotzdem verteilte ein schneidiger Jungoffizier beim Abendappell ein paar Orden für die, die ihre Handgranaten rascher geworfen hatten als der Franzose im Nachbargraben gegenüber.

Ihr Schmeißfliegen der Kriegsgewinnler, habe ihr eure Häuser und Grundstücke und Goldstücke wiedergefunden? Aber da Geld ist euch auch verreckt,und das tut mir gut. Aber von was habt ihr euch so schnell wieder prächtig eingekleidet? Das Stolzieren im Sonntagsstaat ist euch wohl nie verloren gegangen! Verammtes Luder am Arm deines eitlen Stutzers. Einmal im Leben wenigstens solltest du so im Dreck gelegen haben wie wir über Monate. Und du wartest auf die Trägerkolonne, die dich auf den Verbandsplatz schleppen, wo der Militärarzt entscheidet, ob das Zusammenflicken bei dir noch lohnt, oder ob sie dich zum Haufen der Hoffnungslosen hinübertragen. Das sind, wie ihr in eurem hochtrabenden Deutsch sagen würdet, „prägende Momente“, und ihr denkt an Opernabende mit dem Sektglas in der Pause in der Hand. Verfickte Bagage in frisch bezogenen Betten, und wir, denen es einmal im Monat zu einem kurzen Besuch im Frontpuff gereicht hat. Mit abgeschossenen Beinen vögelt es sich mühsamer, wenn die eigene Alte überhaupt treu geblieben ist und sich nicht ekelte vor dem Heimkehrer, der ehrenvoll das Vaterland verteidigt hat. Eure aufgetürmten Frisuren oder kessen Bubiköpfe gehören euch kahlgeschoren, wie uns bei der beißenden Entlausungsprozedur. Aus stinkender Uniform wochen- oder monatelang nicht herausgekommen. Wund gekratzt am ganzen Körper, abgemagert und erschöpft, durchgefroren im Winter, aber mit rührseliger Weihnachtspost versehen und einer Trockenwurst, die sofort verteilt wurde.

Habt keine Angst, die Polizei wird mich schon wieder vertreiben. Aber es wird ohnehin kalt. Dann holt mich mein Neffe mit dem kleinen Rollwägelchen und hüllt mich in seiner Bude erst mal in wärmende Decken, bevor der mich nachhause karrt, aber was heißt schon nachhause. Meine Frau zählt die klappernden paar Münzen und brummt etwas Unverständliches, immerhin lässt sie mich am Tisch mit ihrem neuem Mann sitzen, und so kriege einen warmen Brei, der geht ohne Schmerzen durch die Zähne. Ich mag mich nicht entschuldigen, dass ich euch den Spaziergang verdorben habe. Ich kann euch nicht einmal beneiden in eurer teuren Kluft. Ich hülle mich warm in meine Bitterkeit.Mein Schreien müsst ihr halt manchmal ertragen, falls nicht, wählt Umwege, dann seid ihr nicht angewidert und müsst die Flucht ergreifen. Auf einen weggeworfenen Zeitungsfetzen habe ich gelesen, es sei eine Kriegsverletztenrente im Gespräch. Ich bin gespannt.