Tilmann Moser

Die Bedeutung der Hand in der analytischen Körperpsychotherapie

Verliebt spielen Mütter und Väter mit den kleinen Händchen ihrer Babys und Kleinkinder. Sie genießen es, wenn sich die Fingerchen um den großen Daumen schließen, das Greifen lernen und Halt suchen für erste Übungen des Sich-Aufrichtens. Die elterlichen Hände bedeuten viel:  Zufuhr von Wärme, Sicherheit und Geborgenheit, Form gebende Massage; Turngeräte; Krangreifer zum Hochheben und Aufsammeln nach einem Sturz; Beruhigung in den Stürmen überstarker Gefühle. Sie sind Symbole der verschiedensten Formen von Nähe, des Festhaltens wie des Freigebens; leider auch Werkzeuge des Strafens wie des Streichelns, der Zärtlichkeiten wie der Übergriffe. Sie können kitzeln, kraulen und tätscheln, schlagen und wiedergutmachen. Sensible Dichter haben Gedichte verfasst über Mutters Hände und Vaters Fäuste oder schwielige Pranken. Elternhände spiegeln das ganze kindliche Beziehungsschicksal, vom ersten vorsichtigen Greifen bis zum Spazieren an der Hand, vom Loslassen bis zu eiligen Rückkehr zu haltendem  Trost und zur zielstrebigen Führung.

Patienten bringen ihre Hände mit in die Psychotherapie. In der klassischen Psychoanalyse bleiben sie unberührt, bis auf das meist kurze Handdrücken bei der Begrüßung oder dem Abschied. Man kann über die Hände sprechen, über frühes Glück und über die Hände zugefügtes Leid. Aber beim Gegenübersitzen oder auf der Couch bleiben sie untätig, werden nicht mehr berührt, berühren nur noch den eigenen Körper, nesteln an der Kleidung, streichen Trost suchend über den eigenen Mund, halten die Wange oder den schweren Kopf, halten sich aneinander fest, geraten ins Schwitzen oder ins Frieren, umklammern mit Hilfe der Arme die eigenen Schultern oder schließen sich angestrengt und Halt gebend oder suchend um die eigene Brust, auch um Angst zu verbergen oder Trotz zu signalisieren. Manchmal wollen sie sich zur Faust ballen, manchmal werden sie heiß vor Sehnsucht oder stoßen unhörbare Hilfeschreie aus, nach Nähe, Rettung oder der Vergewisserung, dass das Gegenüber wirklich aus Fleisch und Blut ist und nicht nur Übertragungsattrappe.

Für orthodoxe Analytiker bedeutet ein Überlassen der Hand des Therapeuten schon Sexualisierung, Übergriff und Manipulation. Die Berührungsscheu hat merkwürdige Blüten getrieben, Freuds Angst vor den erotischen Eskapaden vieler seiner Schüler hat zu einem Regelwerk der Abstinenz geführt, das spätere Generation noch ausgeweitet oder strikter formuliert haben. In den ethischen Richtlinien mancher therapeutischer Schulen ist Berührung als Hilfsinstrument der Behandlung untersagt, die Hände gelten, wenn aufliegend oder zugreifend,  als gefährlich, als übergriffig, manipulativ oder bedrohlich oder sexuaoisierend. Ihr aktiver wie passiver Gebrauch ist fast ein Tabu.

Die engherzige, ängstliche, jeden Körperkontakt vermeidende Abstinenz kann aber auch retraumatisierend wirken: Es gibt eine verzweifelte, ja kosmische Einsamkeit bei manchen Störungen, die nicht durch die warmherzigste, wohlwollendste Empathie in der Stimme gemildert oder gar geheilt werden kann. Sie kann die unbewusste oder bewusstseinsnahe Überzeugung verstärken, der eigene Körper sei abstoßend, räudig oder sonst wie ekelhaft, und der Analytiker hüte sich aus diesem Grund vor jeder Berührung. Es gibt Patienten, die sich in ihrer unerfüllbaren Sehnsucht, aus elterlicher Kälte und Vernachlässigung entstanden, sogar mit den indischen „Unberührbaren“ identifizieren. Und manche finden, da sie das liebevolle und auch Grenzen setzende, Struktur bildende Berühren nie gelernt haben,  nie zu liebevollem Kontakt mit einem Partner, und sie geben ihre erlittene Kargheit weiter an ihre Kinder.

Es geht beim therapeutischen Berühren nicht um Verwöhnung und Wiedergutmachung, sondern um in angemessener Regression erlebte Modellszenen des leiblichen Kontakts, die verinnerlicht werden können. Es gibt Patienten, die andere Menschen, oder gar den unsichtbaren Analytiker, nicht als wirklich und „leibhaftig“ erleben können, wenn jede Berührung in der Regression ausbleibt. Deshalb wird der Begrüßungs- und Abschiedshändedruck über bewertet, ja fetischisiert, um Bruchteile von Sekunden verlängert, auf Nuancen seiner angebotenen Dauer analysiert. Deshalb auch das Grübeln solcher Patienten über das Handgeben, das in einigen Phasen der amerikanischen Psychoanalyse sogar unterlassen werden musste, um eine gefährliche Erotisierung zu vermeiden. Von der orthodoxen Abstinenz zur kühlen Sterilität war es nur ein kurzer Weg. Prüderie und leibfeindliche  Ängstlichkeit spielten sich in die Hände, inmitten einer Gesellschaft, die Erotik und Sexualität hysterisierte und schließlich in der Werbung allgegenwärtig machte. Die universell gewordene anzügliche Witzkultur über die Psychoanalyse zeugt in ihren Überresten noch heute von den künstlich aufgeheizten Phantasien.

Zurück zur Hand: Gerade Menschen, die Übergriffe oder Missbrauch erlebt haben, spüren genau, ob und wie viel echte Abstinenz in der Hand eines berührenden Therapeuten steckt. Gefahr bestünde höchstens in der durch Einschwörungen erzeugten Wehrlosigkeit, wenn ein Therapeut uneindeutig und nicht aus der sicheren Kenntnis seines Mutter- oder Vaterkörpers heraus berührt. Deshalb ist es Pflicht des berührenden Analytikers, sich immer wieder durch Fragen zu orientieren, wie eine Berührung empfunden wird.  Aber vor der Berührung gibt es die Phase der Vorbereitung, des Vorausphantasierens, der biographischen Erforschung der familiären Berührungsgeschichte, des Umgangs mit dem Körper durch Eltern, Großeltern, Geschwistern und anderen bedeutungsvollen “Anderen“.

Die Berührung durch die Hand, wenn sie in sicherer körpertherapeutischer Abstinenz angeboten wird, ist das Geschenk eines erweiterten Containers für alle Gefühle, erst recht, wenn sie dem Patienten noch unvertraut sind, wenn er ihre unbekannte Heftigkeit fürchte und Angst hat vor ihrer aufgestauten und lange verdrängten Wucht. Deshalb ist eine Berührung in der richtigen Atmosphäre ein bedeutungsvoller Tränenlöser, der für viele Patienten erst das lange verschlossene Tor zum Weinen öffnet. Eine angebotene Hand kann Verwirrung, Agitiertsein, Angst und Wut wie Verzweiflung, aber auch verschämt verdrängte Freude so weit hervorlocken, aber auch mildern, dass darüber auch wieder sprachlich verhandelt werden kann, wenn das Fühlen erst einmal erfolgen durfte.

Männer neigen eher dazu, „Händchenhalten“ unter Männern für komisch, wenn nicht für zwielichtig zu halten. Vor allem bei latenter unbewusster Homoerotik und Homosexualität sind mildere oder stärkere vorübergehende Schreckreaktionen möglich. „Meinen Sie das ernst?“, lautet manche Frage, und der Therapeut fragt sich erschreckt für kurze Momente, ob er zu wenig Vorbereitung getroffen oder sich verschätzt hat in der Vorerfahrung des Patienten mit Übergriffen oder Missbrauch. Aber er wird belohnt, wenn der spontan zurück Zuckende dann sich einlässt auf eine väterliche Hand, die er vielleicht viel zu wenig gespürt hat in seinem frühen Leben. Der wird dafür rascher als ein schüchternes Mädchen prüfen, ob in der  Hand des Analytikers auch Kraft und Wärme lebt.

Die Kunst der Annäherung

Wenn ich das Hand-Reichen oder Hand-Geben oder Hand-Auflegen in Supervisionsseminaren mit Psychotherapeuten oder Analytikern üben lasse – es lohnt sich, hier die Differenz zu beachten, davon später – können sich ganz verschiedene Reaktionen einstellen. Manchen ist der Vorgang komplett neu, und entsprechen zögern sie, oder aber sie greifen viel zu schnell und kontraphobisch, das heißt Angst überspringend zu, überspringen dabei tapfer ihre Scheu und ihre eingeübten Bedenken. Peinlich, wenn sie dann bei der Rückfrage beim rollenspielenden Kollegen als Patienten zu hören bekommen, das Angebot habe sie überfallartig überkommen und sie hätten zu wenig Zeit „zum Vorausfühlen und Nachfühlen“ gehabt. Deshalb zuerst noch einmal die gängigsten vorbereitenden Fragen, die der anbietende Therapeut der Atmosphäre, der Stufe der Regression und seinem Gegenübertragungserleben entnehmen kann:  „Können Sie sich vorstellen, das ich Ihr Hand nehmen?“, als einfache Anfrage. Oder: “Ich habe gesehen, wie sich bei Ihnen eine Hand an der anderen festhält. Könnte ich das einmal machen mit einer Ihrer Hände?““ Oder:  „Darf ich einmal meine Hand in Bereitschaft neben Sie legen? Dann können Sie sie nehmen, wenn Sie wollen?“ Oder:; „Habe ich das recht gesehen, dass Ihre Hand nach meiner winkt, vielleicht ohne dass Sie es gemerkt haben?“  „Was macht da Angebot mit Ihnen? Kommt es einem Wunsch oder einer Stimmung entgegen?“ Bei Depressiven ist es sogar wichtig zu fragen, ob sie auch ablehnen dürften. Denn in ihrer Verlorenheit und Fügsamkeit sind sie oft überschnell bereit dazu, ohne gründliche Vorprüfung der eigenen Reaktion. Bei ihnen staunt man über die Mitteilung, dass sie scheu es sich längst gewünscht haben. Ein Patient meinte einmal, fast unwillig: „Na endlich!“. Er war gekommen in körpertherapeutischer Hoffnung auf Berührung, entweder mit Vorerfahrung oder mit dem typischen Gefühl, halb verhungert eine klassische Therapie oder Analyse in unerfüllter Sehnsucht, die ja vollkommen verdrängt sein kann, beendet zu haben oder noch in ihr zu schmachten. (Weitere Überlegungen und Vorschläge finden sich in meinem Taschenbuch „Berührung auf der Couch, Formen der analytischen Körperpsychotherapie“, Suhrkamp, Frankfurt 2001)

Oft schon ist die Annäherung an die erste Berührung ein spannendes Ereignis: meine Hand liegt auf dem Rand der Couch bereit, der Patient kann sich mit seiner Hand oder den Fingern meiner Hand nähern. Oder meine Hand liegt, bei einer Therapie im Sitzen, auf einem Kissen auf meinem Knie. Die Gefühle des Näherkommens sind enorm wichtig, weil sie die Ängste und die Hemmungen enthalten, sowie die Sehnsucht und die Wünsche nach Tempo oder unruhiger Verzögerung, einschließlich der Angstlust vor dem Gelingen der bis dahn unbekannten Nähe. Beide Partner können das prickelnde Verstreichen der Zeit genießen, der Patient seine Autonomie in der Annäherung oder im Zögern.  Die Berührung kann sich von einem vorsichtigen Anstupfen der Fingerspitzen bis zu einem beherzten Zugreifen zur ganzen Hand und ein neugieriges Untersuchen derselben.

Wichtig ist die Umkehrung der Initiative, der Therapeut fragt:  „Darf ich mich langsam ihrer Hand nähern?“ Imitiert der Therapeut bei der Annäherung mit seiner Hand einen heran krabbelnden Käfer, so weckt das unmittelbar frühe Angstlust mit der Gefahr eines Gefangen-Werdens oder eins Überfalls.

Zu den „Übungen“ mit Kraft und Widerstand (siehe noch einmal „Berührung auf der Couch“, gehört vor allem die energetisierende Wirkung eines festen Zugriffs auch auf beide Hände, mit dem Angebot, die eigene Kraft zu zeigen, an der Faust des Therapeuten zu rütteln, oder ihm die Kraft zu zeigen, wenn es ums Drücken im Stehen geht. Dem Experimentieren sind kaum Grenzen gesetzt, ein deutliches rasches Stopp beendet eine Übung, die zu aggressiv zu werden droht oder die von der  vereinbarten Form der Berührung überraschend oder listig abweichen will. Denn es wird immer wieder Patienten geben, die aus einer rivalisierenden Geschwistergeschichte heraus tricksen und täuschen wollen, um ein  Unterlegenheitsgefühl zu unterlaufen. Wichtig bleibt immer zusagen, dass es nicht um Sieg oder Niederlage, Triumph oder Demütigung geht, sondern um elterlichen Halt bei der Erprobung der eigenen Kräfte. Natürlich muss der Therapeut, vor allem die Therapeutin abschätzen, wie viel Halte- und Schiebekraft ihr zur Verfügung steht.

Die dargebotene Hand vermittelt eine biologische wie eine symbolische Botschaft: Ich bin dir gewogen, nicht feindlich gesonnen, ich kann dich ertragen, auch wenn du feindlich gesonnen bist.  Ich verlasse dich nicht, dein Körper und damit dein Körperselbst ist mir nicht zuwider, auch wenn du zutiefst wütend auf mich bist, ja mich hasst. Dies ist, neben den mehr schützenden, die positiven Zuwendungsaffekte verstärkenden Botschaften die wichtigste Mitteilung: Es bleibt neben aller Feindschaft eine leiblich positive Verbindung erhalten, die bei einer durchweg negativen und die Beziehung potentiell total gefährdenden Grundübertragung von allem gegenüber dem unsichtbaren und unberührbaren Analytiker ein zweites Band, das ein archaisches Arbeitsbündnis garantiert und gegen die archaische Angst völliger Verlorenheit ankämpft. Sie fördert die Gewissheit, das die Welt nicht aus Bosheit und Feindschaft besteht und mildert paranoide Ängste vor Vernichtung und Zerfall, ja selbst vor totalem Selbstverlust, weil auch der Andere nicht verloren geht und sogar vorübergehend als überlebender Teil des eigene Selbst wahrgenommen werden kann.

Beispiele

Ein 55-jährige Patientin, ursprünglich ausgebildete Chirurgie-Schwester, fasst fünfzehn Jahre nach dem Beginn ihrer Lektüre vieler meiner Bücher, vor allem der körpertherapeutischen, den Mut, weit entfernt hinter Hannover wohnend, den Mut, mich um wenige Doppelstunden zu bitten. Es stellt sich heraus, dass sie aus  Angst vor einer Analyse eine Vielfalt von halbwilden, auch heftigen Therapie und Klinikaufenthalten absolviert hat, teilweise mit erheblicher Retraumatisierung. Sie hat zusammen mit einem Mitglied einer frommen Sekte, aus der sie selber stammt, fünf Kinder groß gezogen, die allesamt erfolgreich flügge geworden sind.  Ihr Vater war in der Gruppe ein einflussreiches, hoch angesehenes Mitglied, aber körperlich ein, abgesehen vom täglich zwei mal geforderten rituellen Kuss, ein Unberührbarer geblieben. Mich rührt oder erschreckt eine von ihr berichtete Szene:

Sie trabt hinter dem eilig gehenden Vater auf dem Weg zu einem „Versammlung“ der Sekte her und greift, im Dunklen von Sehnsucht und Wunsch nach Schutz übermannt, nach dessen Hand. Der aber schüttelt sie ab mit bitter mahnenden und verbietenden Worten. Sie fängt geschockt und derb zurückgewiesen an zu weinen, was dieser ihr grob verbietet mit den Worten: „Lass die Heulerei!“ Sie war aber als Siebenjährige längst Kindermitglied in der Gruppierung, hasste aber früh schon heimlich die drögen Kindergottesdienste und das rituelle Bibellesen vor allem Mahlzeiten, ist jedoch der Sekte treu geblieben. In der dritten, bisher nur berichtenden Stunde beginne ich zu hadneln: Obwohl ich weiß, wie wenig ein einfaches „Wiedergutmachen“ möglich und hilfreich ist, aktiviere ich meine körpertherapeutischen Möglichkeiten, die allerdings nur in kontrollierter Regression einen Sinn machen. Ich bitte sie auf die Couch, zu mit gewandt liegend, und sage ihr, dass ich ihr meine Hand zum Halt anbieten werde.  Sie regrediert rasch und äußert: „Ich fühle mich wie ein kleines Kind, sogar jünger als damals.“ Als ich ihre Hand nehme, beginnt sie zu weinen, hält meine fest bis zum Ende der Stunde, mal vorsichtig, mit wachsendem Vertrauen kräftig, aber auch ihre Festigkeit und Kraft prüfend. Ihr spüre eine deutliche Rührung, vor allem mit dem eben geschilderten Bild mit dem weg eilenden Vater in Erinnerung. Sie pendelt zwischen stillen Weinen und heftigem Schluchzen, das sie beschämt und das sie zu unterdrücken sucht.

In der vierten und fünften Stunde bittet sie um Wiederholung und meint immer wieder: „Ich lasse die Gefühle tief in mich eindringen und werde die Hand mitnehmen und hoffentlich abrufbar in Erinnerung behalten.“ Der amerikanische Körpertherapeut, bei dem ich sehr viel gelernt habe, spricht von haltbaren verinnerlichten Bilder oder sogar von einer „neuen Erinnerungslandkarte“.

Die sechste, abschließende Stunde verbringen wir mit verbaler Intergration und und mit meinem Vorschlag, das Treffen in einigen Monaten zu wiederholen, mit der Bedingung, dass sie sich vor Ort regelmäßige analytische Hilfe sucht. Dabei erfahre ich auch, dass sie sich einem Analytiker nie in die tiefe ihrer Seele blicken lassen würde. Aber nach der Erfahrung mit mir könne sie sich das gefährliche Abenteuer vorstellen. Sie verabschiedet sich dankbar, kann aber nur mit Mühe das Zimmer verlassen und gesteht mir in einer Mail später, sie hätte am liebsten meine Schuhe vor der Tür als Schutztalisman mitgenommen.

Ein weiteres Beispiel:

Ein ca. fünfzigjähriger Musiker, stets dunkeln gekleidet und depressiv, wird mir von einem analytischen Kollege überwiesen, der mit rein deutender Therapie nicht weiter kam. Der Patient verlor mit sechs Jahren nach einem schweren Leiden seinen Vater. Aus Gründen der „Schonung“ wurde er bis nach dessen Tod ohne Erklärung bei Verwandten untergebracht, ohne Abschied nehmen zu können, was er, ohne es benennen oder auch nur fühlen konnte, späte seine „Verstoßung“ nannte. Seine Mutter habe er bei der Wiederkehrtief verzweifelt und bis an ihr Ende in tiefer Trauer wieder gefunden und und hinfort sich stark parentifiziert für sie verantwortlich gefühlt.  Er selbst habe aber nie trauern können und behielt nur   wenige erfreuliche Erinnerung an ihn im Gedächtnis, plus einem letzten Blick auf den vor sich hindämmernden Sterbenskranken.

Wir suchten nach weiteren Spuren der Erinnerung, aber die Unfähigkeit, um den Vater zu trauern, blieb wie erstarrt in ihm. Mir vielen viele Deutungen ein unter anderem: Das Bild der Mischung von Trauer und Depression der Mutter war so niederschmettern und abschreckend, dass er jeden Hauch der Verwandtschaft mit ihr verbot oder instinktiv vor einer Nähe oder Identifikation  oder Ähnlichkeit mit ihr zurückschreckte. Besonders leuchtete ihm ein, dass er vor einen „gemeinsamen Sumpf der Trauer“ angewidert war; dass er noch zu wütend war über seine „Verstoßung“ vor einer leidvollen Gegenwart des Vaters, dem quasi-Verbot des Abschieds von ihm, der erklärungsfreien Entfernung und Verbanung,  dieauch als Verrat durch die Mutter an ihm empfand, als eine heimtückische Schonung und Entwertung seines wachsenden Verständnisses für die Erkrankung, vor allem aber seiner immer noch glühenden Liebe und Verehrung des Vaters, trotz dem Erschrecken vor seinem zunehmendem Verfall. Schließlich half mit die Erinnerungen an einen Ausdruck von Hermann Beland über die „unaushaltbaren Gefühle“, die zu einem Erstarren der Seele führen.

Schließlich schienen uns und Familienbilder zu helfen, aus der fröhlichen, ja fast überschwenglich wirkenden  frühen Kindheit mit dem stämmig-vitalen, ihn haltenden und auf seinen Knien wiegenden Vater und der langsam sich verdüsternden Atmosphäre nach dessen Erkrankung. Ein Bild von dem fast heldisch anmutenden Vater, den er auf einem leuchtenden vergrößerten Porträt mitbrachte, und das ich schräg von seinem Sessel sichtbar an einem Balken befestigten. Er fand die Suche nach der verlorenen oder nie gelegten Trauer fast als eine fixe therapeutische Idee von mir, doch zunehmend konnte er sich mit der archäologische Suche nach dem verschütteten Affekt identifizieren und erlaubte sich  eine Suchsolidarität mit mir. „Ich werde dich wiederfinden, samt meiner Trauer um dich, das verspreche ich dir“, ließ ich ihn einen Satz an ihn richten, den er mit eigenen Variationen fast beschwörend wiederholte.

Schließlich suchte ich nach möglichen Körpererinnerungen an den Vater  und bot dem scheuen Mann an, sich von seinem Sessel die Couch zu legen und meine Hand zu ergreifen. Wie die meisten mit mir inzwischen vertraten Depressive willigte er sofort ein, nannte das Gefühl angenehm und bergend und solidarisierte sich noch stärken und überzeugter mit unserer „Suche nach der verlorenen Zeit“. Wie wogende Schleierwolken kamen Affektfetzen über ihn, , mal düster, mal hoffnungsvoll begrüßt, und er verstand, wie ernsthaft mir die Fahndung nach der Trauer war, die er inzwischen vermisste wie einen verlorenen Anteil seiner Seele, und mit dem ihm zuerst fremden Einsatz meines eigenen Körpers. Er ließt Zeichen von Dankbarkeit erkennen und solche einer mann-männlichen Sympathie in weiter Entfernung von der unerträglichen und fast vergifteten, ihn lähmenden Trauer der Mutter.

Nach einigen Monaten begann ich mit Fotos als Erinnerungshilfe zu arbeiten, er vergrößerte dafür mit Sorgfalt kopierte Kinder- und Familienbilder, die wir nebeneinander sitzend betrachteten und besprachen. Bis die fortschreitende Krankheit das Gesicht des Vater wie sein Blick düster und erschöpft aussehen ließ, sagen wir liebevoll aufgenommene Porträts der Beiden, lebendig, anschmiegsam einander zugekehrt, er als Dreijährige stolz auf Vaters Schulter, oder der siebenjährige angelehnt an ihn, geborgen unter dem um die Schulter gebogenen Arm. Er stimmt zu, dass es schöne Vater-Sohn-Bilder seien, aber er fühle dabei nichts und schaue auf das Kind wie auf ein fremdes. „Ach, was habe ich meine Gefühle ausgeschaltet und finde sie nicht mehr!“

Da ich über Körpererinnerungen, deren Kraft und Wirkung viel nachgedacht, experimentiert und geschrieben habe, greife ich eine Möglichkeit der Anwendung, ausgehend von den Bildern, auf denen die umklammernde oder haltende Hand eine Rolle spiet. Ich erkläre ihm mein Vorhaben, bitte ihn auf die Couch, staune über die Leichtigkeit des Wechselns, frage nach und erfahre nach langen Monaten der gemeinsamen Arbeit, dass er ja in einer früheren, blanden und ergebnislosen drei Jahre dreistündig so gelegen habe. Dann biete ich ihm meine Hand an, die er ohne Zögern nimmt, als habe er sie fast schon erwartet, und er behält sie bis zum Ende der Stunde, kann sich entspannen, die Augen schließen und mich wieder mit dem Blick nach mir suchen. Ein Brennen und eine Anspannung in der Magengegend  löse sich auf, und er meint, das könne die Hand des Vaters sein, die tauche jedenfalls in der Erinnerung auf. Doch als er zum Schluss auf das aufgehängte vergrößerte Bild des Vater blickt, meint er: „Ich weiß, das muss er sein, aber es bewegt nichts in mir.“

Für die nächste Stunde hat er weitere Fotos mitgebracht, meist bei Ausflügen aufgenommen, die wir, nebeneinander sitzend betrachten, und ich äußere angesteckt fröhlich, das seien ja lauter fröhliche Bilder, in verschiedenen Altersstufen. Es kommen einige beglückende Erinnerungen hoch, er erlebe nebelhaft die Heiterkeit, aber seine Seele reagiere weiterhin stumpf. Wir sind wieder weit weg von jedem Anflug von Trauer. Doch er sagt, er habe sowohl traurige wie zuversichtliche Träume, und ich schlage ihm den Satz vor: „Papa, ich werde noch um Dich trauern können, aber nicht in einem dem gemeinsamen Trauersumpf mit der Mutter. Ich habe genug davon, mich unendlich mehr um sie als um mich zu kümmern.“

Es gibt weitere bergende Verwendungen der Hand. Die nächste wichtige ist die, sie, senkrecht zu Couch sitzend, nach Vorphantasieren und Vorbesprechen, auf das obere Brustbein zu legen. Es ist die zentral beruhigende Haltung der Mutter, mit auf das in ihrem Arm geborgene Kind ihre für den  Säugling und später, groß wirkende Hand zu legen, auf das Kind lächend nieder zu blicken, eingehüllt in ihre schmeichelnden und ermutigenden Laute. Ein Blickdialog zwischen Schauen und Augenschließen begleitet die Szene, Geborgenheit und das Tanken seelischer  Kraft wechseln sich ab oder ergänzen sich.

Noch ein paar Sätze zur belebenden starken und Widerstand gebenden Hand: Es braucht manchmal weitere Ermutigung, um Architektur und Stärke der Hand zu erforschen, was bedeutet: „Fassen Sie so kräftig wie Sie wollen und sich zu trauen zuzupacken, prüfen Sie meine Kraft und Stärke, kneten Sie sie, zerren Sie an ihr, stoßen Sie gar zurück, sie wird trotzdem nahe bleiben und zu Ihnen zurückkehren.“ Inmitten der Zärtlichkeit ist also auch Aggressivität erlaubt, die so innig wie wütend sein kann, die Angst vor zerstörerischen Phantasien und Wünschen mildert und das Arbeitsbündnis dankbar erweitert.

Auch bei den Primaten lockten die Affenkäfig vor allem wochenends zehntausende Familien in die mehr oder weniger berühmten Zoos. Kinderjubel ertönt durch die Wege, wenn sich Kinder jeden Alters, aber auch Erwachsene  wiedererkennen oder am Jubel ihrer Kleinen laben, nicht nur beim Fangenspielen, den Liebkosungen, dem gelegentlichen Knurren oder Kämpfen, Kletterübungen, bei denen besonders schnell greifende, geschickte Hände gebraucht werden, sondern vor allem bei den unendlichen Formen der Zärtlichkeit: dem Lausen und Kraulen, das verwandtschaftliche Nähe und Clanzusammenhalt fördert, aber auch die innige schützende, helfende und beruhigende Bindung zwischen der Mutter und den Kleinen, die nach dem Tanken von Lebendigkeit sich wieder herumtollen und jagen. Die Hände bilden die Instrumente der Festigung der Verwandtschaft und Soldarität untereinander, aber auch der Abgrenzung von gerade missliebigen und oder kranken Genossen, soweit sie nicht auch Objekte der Hilfe und Fürsorge darstellen. Die pelzige Haut ist Grenze und für Gefühle durchlässige Hülle, auch für Anbiederung, Nacken und Verschmelzung in der gelegentlichen wärmenden und schützenden Knäuelbildung. In manchen Therapie- oder auch nur Wohlfühlgruppen bildet das ganz nahe Zusammenrücken mit viel Berührung, Umarmung und Umschlingung einen begehrten Höhepunkt des Zusammenseins, beliebt besonders bei Singles oder  vereinsamten Menschen, die ohne Scham eine kollektive Nähe suchen und finden können, um der auch prickelnden Umklammerung wieder gestärkt zu entgehen.

In der körpertherapeutischen Paartherapie, aber auch dort, wo man sich mit Lebensberatung begnügt, ist die Anleitung zur Berührung bei Paaren, die berührungscheu ihre Verbindung begonnen haben oder mit zunehmendem Alter

wieder scheu geworden sind, weil sie zu viel körperliche Nähe für nicht mehr altersgemäß halten und im Stillen dabei wieder sehnsüchtig zu verhungern drohen. Auch  in der Palliativmedizin gibt es neben ängstlichem Personal auch solche solche Menschen, die ohne Scheu aktiv Berührung anbieten, um den Weg zum Sterben zu mildern und zu entängstigen und eine manchmal letzte und tröstende Nähe anzubieten. Und meist sind es die Hände, die den Kontakt einleiten und festigen oder auf Wunsch dauerhaft gestalten, zum Mildern körperlicher und seelischer Schmerzen oder zu einer oft nur noch wortlosen Nähe gegen die Verlorenheit.