Tilmann Moser

Über die Lösung von Eiden und Gelübden

Mit der Lösung oder Löschung habe ich, seit ich die Psychoanalyse mit dem Rollenspiel, der Konfrontation oder der Gestalttherapie verbinde, konnte ich einige Erfahrungen sammeln hinsichtlich des therapeutischen

Umgang mit Eiden und Gelübden, die eigentlich biographisch oder historisch längst überholt waren, und die dennoch im Unbewussten oder Halbbewussten fortstanden in einer fast übermenschlichen Bindekraft.

In einem früheren Seminar während der Lindauer Psychotherapiewochen ca. um 2000 zum Thema Seelische Spätfolgen von NS-Zeit und Krieg hatten sich Angehöriger der zweiten Generation, zum damals Teil noch Kinder, Hitlerjungen und Flakhelfer, zusammengefunden, um ein lastendes Familienerbe erneut noch einmal anzuschauen und zu bearbeiten. Nach längeren lebensgeschichtlichen Berichten wurde es klar, dass die Eide der Eltern auf Hitler noch immer wirksam und ungelöste verblieben waren. Der Diktator lastete noch auf der Elterngeneration. Aber meiner Anregung, quasi stellvertretend für die teilweise sehr tiefverstrickten Väter und Mütter zu Hitler zu sprechen, war kein Teilnehmer bereit zu folgen, teilweise trat Widerwillen zutage, auch Angst vor seiner fast mythischen Rachemächtigkeit, oder auch die Erklärung der Unfähigkeit, zu einem so gewaltigen, aber seelisch undeutlichen Monster zu sprechen. Auch Scham spielte eine Rolle, Furchte vor einem Loyalitätsbruch gegenüber den Eltern, eine Verweigerung der Identifizierung in der Rolle aus Sorge, die eigene übernommene Verstrickung träte plötzlich hervor. Aber als ich vorschlug, sie sollten in der Rolle oder für Eltern deren Gefühle zum Führer zu zeigen, wich die Angst, und einige waren bereit, vermutete oder ersehnte Affekte der Eltern beim frühen Jubel und nach der vernichtenden Niederlage und Enttäuschung zu formulieren. Es wurde zu einer psychischen „Reinigungskur“ gegenüber dem Verführer, Gewalttäter und Forderer oder Erpresser des Treueschwurs. Es folgten sich steigernde Angriffe gegen sein Riesenbild, seine Faszinationskraft, seine Verheißungen, seine Verbrechen, sein Missbrauch des Volkes, seine wahnwitzige Verklärung seiner Person wie seiner Nation und seine später Verdammung zu dessen Untergang.

Es kam zu fast körperlichen Zorn- und Hassausbrüchen, zu Wut über die gestohlen und doch begeistert geschworene Treue, und mehrere „Eltern“ schrien, dass der Eid nicht mehr gelten müsse, dass er durch Verblendung und Terror erzwungen gewesen sein, und dass sie ihn kündigten, ihm den Unhold vor die Füße werfen wollten. Es kam auch zu Äußerung von Ekel, und einige Rollenspieler baten um die Erlaubnis, gegen den imaginär präsenten Halbgott, Schreckensherrscher und Scheusal in seine Richtung spucken zu dürfen. Jeder der Beteiligten hielt schließlich erschöpft inne, schwieg wie zu Erholung nach einem schrecklichen Erlebnis von anhaltendem Erbrechen. Eine sagten, noch zum Abschluss mit ihren Eltern konfrontiert sinngemäß: „Das hättet ihr selbst machen sollen oder dürfen, dann wäre er nicht mehr der düstere Gast über unserm Familienleben geblieben.“ Der Vorgang war für einige Teilnehmer konvulsivisch, einige weinten, andere schienen beim Zuschauen und Zuhören erstarrt.

In mir entstand sehr verzögert und erst nach und nach, nach dem ich über die Qualen der Gegner und Verschwörer gegen Hitler hinsichtlich der Fortgeltung des Treueeides gelesen hatte – auch Theologen waren konsultiert worden, offensichtlich mit widersprüchlichen Antworten – die Phantasie, es hätte in damaligen Berlin oder in der Wehrmacht mitverschworene Psychologen oder Analytiker gegeben, die in konspirativer Heimlichkeit hätten aufgesucht werden können, und die bei der Entlastung von der fast ehernen Gültigkeit der Eide durch eine ähnliche lösende Konfrontation hätten helfen können, durch die Gewährung eines Einblicks in die emotional und ethisch ungültig gewordene Last des Eides Hilfe zu leisten in den Gewissensqualen der anscheinend für ewig Gebundenen. Der Tyrannenmord hätte vielleicht früher und erfolgreicher stattfinden können, und eine innere Umkehr der verworren weitergehend Verstrickten wäre leichter erfolgt, ohne das absurde Weiterleben der Verstrickung. Denn es war die weiterbestehende Treue, die zum langen Überleben der NS-Gesinnung beigetragen, die zur erstarrten „Identität im weiterbestehenden Falschen“ geführt hatte. Spekulation einer verspäteten Hoffnung.


Meine Erfahrung mit der Lösung von innerlich fortbestehenden Gelübden auch nach erfolgter bewusster Kündigung oder Freisprechung stammt vom therapeutischen Umgang mit katholischen Priestern, die vor der Weihe zum Priester in einem die Tiefe der Bindung gleichsam zementierenden Ritual der liegenden Unterwerfung unter anderem Gehorsam und Keuschheit gelobt hatten.

Bei den meisten haperte es bei der Keuschheit, die aber innig mit dem Gehorsam verbunden ist. Am meisten habe ich gelernt von zwei ehemaligen Jesuiten, beide glücklich verheiratet und in therapeutischen Berufen tätig. Aber obwohl sie mit dem Einverständnis des Ordens ausgeschieden waren, blieben unaufgelöste Bindungen und tief verwurzelte Gelübde wirksam und bestraften sie mit heimlichen oder auch bewussten Schuldgefühlen, über die sie mit Niemandem auf befreiende Weise hatten reden können. Die Ehefrauen kamen nur begrenzt infrage, weil das Ausmaß der empfundenen Schuld und die Ambivalenz über lange Zeit beziehungsbelastend und –gefährdend gewirkt hatten.

Zu meinem Erstaunen war nicht das Reden zu Gott am schwierigsten – sie konnten sich ihn trotz ihrer Abkehr von der Berufung als gütig oder wieder gütig und sogar verstehend oder gar billigend vorstellen, sonders es waren einzeln Obere, sozusagen ihre Betreuer, Lehrer, Beichtväter und Seelenführer, denen sie die größte Loyalität und Dank schuldeten. Beiden waren sie gleichsam väterlich strenge Vaterfiguren geworden, deren Berufung und Triumph es auch gewesen war, sie neben der Führung zum Ordensgelübde auch theologisch und wissenschaftlich wie seelsorgerlich erfolgreich zu fördern. Das führt zu dem Paradox, dass die umfassende menschliche und theologische Betreuung, die sie erfahren hatten, zur aus Ordenssicht eher „verderblichen“ Entwicklung geführt hatte. Eine strenge und weniger einfühlsame Führung und Beichtpraxis hätte vielleicht zum Verbleib in der Weihe gereichen können.

Konfrontierend kamen sowohl Dank wie Trauer, innige Bindung wie vorsichtige Wut über die Länge der gläubigen, hingebungsbereiten, vom Endergebnis her gesehen auch lebensbehindernden Abhängigkeit zum Vorschein. Rührend war die Bitte um Verstehen und Vergebung, die im Rollenwechsel erarbeitet werden konnte: Sowohl Gott wie die schützenden und bindenden Oberen wollten nicht das Unglück ihrer Jünger, sondern lösten einfühlsam, wenn auch mit verstehbarer Trauer die Gelübde, obwohl sie einst als unaufhebbar und unauflösbar und unkündbar gegolten hatten: Ewiger Gehorsam. Beide berichteten ihren Frauen erleichtert über das therapeutische Erleben und schieden von mir anerkennend und dankbar.