Bestie Mensch und die Sehnsucht nach dem Paradies
Höllenerfahrungen und Paradies- und Erlösungsvorstellungen bei schwer traumatisierten Patienten
2013
Jeder Psychotherapeut kennt Patienten, die nach Fallträumen verstört in die Stunde kommen. Bei manchen häufen sie sich, und das kann zu Phasen tiefer Verstimmung, ja Verzweiflung führen, die vorübergehend unaufhebbar erscheinen können. Man mag dann verschiedene Einfälle haben: konkretes Fallengelassen-Werden, wie es manche Patienten erleben mussten; wichtiger aber: Lieblosigkeit, Gewalt, Schläge, Missbrauch in jeder Form, basales Unwillkommen-Sein wegen falschem Geschlecht, wegen Depression oder Psychose der Mutter, ein Nicht-Gesehen-Werden, fehlende Wärme und Ermutigung zum Leben, und vieles mehr.
Es kommt auf die Grade der Traumatisierung an, auf das Begleitgefühl der Hoffnungslosigkeit, auf unerträgliche leibliche oder seelische Schmerzzustände. Es gibt Patienten, die kommen aus ihrer Urscham nicht heraus, überhaupt geboren worden zu sein, weil sie extrem unerwünscht waren, oder von einem verhassten oder untreuen Partner oder gar aus einer Vergewaltigung stammen, oder weil eine Abtreibung missglückt ist. Schon der Beginn des Daseins kann so vergiftet sein, eine eigene Sinnsuche hat versagt, und die eigenen kompensatorischen Überlebensstrategien haben in immer tiefere Verstrickungen geführt. Die sprichwörtlichen Phantasien von Höllenstrafen, religiöse Dogmatik, Höllenszenen aus der Kunstgeschichte und das Gefühl der Verworfenheit, nicht zu den Schafen, sondern zu den verdammenswürdigen Böcken zu gehören, können dazu führen, dass die Hoffnungslosigkeit das Bild der grauenhaften Ewigkeit annimmt. Hinzu kommt meistens ein Gefühl totaler Einsamkeit, die ich bei manchen Traumatisierten auch schon als „kosmisch“ bezeichnet habe.
Wichtig bei der Diagnose der Tiefe des Fallens ist die Frage: handelt es sich um einen Dauerzustand ohne Ende, oder gibt es ein Ziel des Sturzes, einen Aufprall, einen scheinbar endgültigen Ort, aus dem es keine Befreiung mehr gibt? Ich erinnere mich an Träume von endgültiger Verlassenheit, an undurchdringliche Dunkelheit, an Überschwemmung, Ertrinkensgefahr, an züngelnde Flammen, die näher kommen, an immer neue Todesdrohungen, Folter, endlose Verfolgung. Und als begleitende Affekte: Angst, Panik, unentrinnbare Verfolgung, unauslöschliche Schuld, und wie beider Psychose, das Grauen des Zerfall oder des Verfaulens.
Meistens gibt es sogenannte böse Introjekte, die den Verlorenen verhöhnen, oder die ihm zuflüstern oder zuschreien, dass das Vertrauen in den Therapeuten sinnlos ist, weil er viel zu schwach oder zu inkompetent oder selbst zu krank ist, um Heilung bringen zu können. Die Introjekte versuchen den Therapeuten selbst zu infizieren mit Gefühlen der Ohnmacht, der Inkompetenz, aber auch der Wut oder der Rachsucht am Patienten, der aus der Stimme seines Partners abliest, das er Recht behalten wird mit seinem Gefühl der Verdammung.
Ich erwähnt nur einen einzigen dieser Höllenträume: der Patient fällt in einen Abgrund, in dem aus einem giftigen Sumpf spitze Messer herausragen, die ihn zerfetzen werden. Wenn man durch Sammlungen mittelalterlicher Malerei wandert, wird man mit ziemlicher Sicherheit auf Bilder stoßen, wo Märtyrern oder bösen Feinden genau diese Todesart bereitet wird. Und viele Maler sind von der Kirche fürstlich belohnt worden, wenn sie Bilder oder auch riesige, Wand fülllende Fresken gemalt haben mit Szenen des Höllensturzes der Verdammten mit den fast lustvollen Schilderungen der Grausamkeiten der verfolgenden Teufel. Und dagegen stehen Bilder des seligen Aufstiegs der Erlösten himmelwärts und ins Licht, ermutigt von tatkräftigen Heiligen oder getragen von flugstarken Engeln, die den Ankommenden ein anmutiges Willkommens-Lächeln bieten. Sie verweisen in der Regel auf die Erlöserkraft der göttlichen Trinität, die in verschiedenen Gestalten hoch droben das Paradies verspricht.
Wenn die Elternbilder zu unbrauchbar, ablehnend, grausam oder destruktiv sind, kann das verzweifelte Kind nicht anders, als sich an kompensatorische Größen zu richten, mögen sie real, symbolisch, regressiv, religiös oder wahnhaft sein, oder manchmal (fast) alles zusammen. Die katholische Kirche hat immer das Angebot gemacht, Irdisches Elend durch transzendente Erlösungshoffnungen zu kompensieren, sei es im Dienst der Forderung von Moral und Angst, oder zur Verstärkung der Glaubensbindungen an die verheißungsvolle Institution. Es ist manchmal auch in Therapien schwer einfühlbar, mit welcher vermeintlich lebensrettenden Gier Kinder nach diesen Versprechungen, Symbolen oder Erlösungsdrogen greifen. Oft bleiben sie lange Zeit hinter einem Vorhang von Scham und damit von Widerstand verborgen.
Denn der Erwachsene, aber auch das ältere Kind, weiß sehr wohl, wie illusionär seine seelischen Haltegriffe und hoffnungsvollen Absicherungen sein können. Bei einer Patientin war es ein einziger, winziger funkelnder Stern am Himmel, bei dem sie ihren Rest Hoffnung geparkt hatte. Bei anderen kann es ein als Kind gesehenes Bild eines gütigen Jesus sein, oder der blaue Schutzmantel der Madonna; eine gütige Fee, ein Wiedergutmachungsengel, sogar eine Traumlandschaft, die von keinem Menschen bedroht ist. Und manche ersehnen die Erlösung von einem bergenden Grab, oder auch vom Wunder einer heilenden Liebe, wenn man nur den richtigen Partner findet. Ein Teil des vielfältigen Partnervermittlungsbooms lebt von solchen Hoffnungen; manche wundergläubigen Paradiessucher, Männer wie Frauen, suchen sogar ausdrücklich den Einzigen, der „alles wieder gut macht.“
Aber die Traumatisierten sind ja nicht nur Opfer, sondern sie können nicht anders als sich mit den Tätern oder einzelnen Merkmalen von ihnen zu identifizieren. So findet man, wenn man tief genug gräbt, hinter der Urscham auch einen Urhass, den ein unwillkommenes Kind von ersten Lebenstag an unbewusst speichern kann. Und zu den Selbstbildern als unschuldiges Opfer gesellt sich dann in der Tiefe auch eine Monsterphantasie, eben das verborgene Biest, zum dem sie manchmal auch in der Realität geworden sind. Dann ernten sie, wenn die Ablehnung noch erträglich und nicht verzweifelt ist, von den Eltern den Ehrentitel einer „Nervensäge“, aber auch destruktiver: „Du bringst mich noch ins Grab“, oder „Du wirst eines Tages mein Sargnagel sein.“ Selbstmorddrohungen einer verzweifelten oder sadistischen Mutter nähren das Selbstbild, und wenn ein Vater immer wieder gekränkt sich abwendet oder das Kind durch langes Schweigen straft, dann nehmen Schuldgefühle und Selbstzweifel gelegentlich apokalyptische Ausmaße an, und die unbewussten oder auch bewussten Rachephantasie greifen nach Bildern von Mord, Verstümmelung, Verrat oder endlose Beschämung. Und die wiederum verstärken zirkulär Scham und Schuldgefühle.
In einer Intervisionsgruppe geriet eine erfahrende Kollegin von mir nach einer sicher uneinfühlsamen Bemerkung von mir in eine Art Stupor und ein Gefühl lähmender Wehrlosigkeit. Nach längerem Sträuben kam sie, zu ihrem eigenen Entsetzen, auf das Rachebild, das wir dann inszenierten: Ich, der sie kränkte, liegt auf dem Rücken am Boden, sie steht über mir, möchte mir mit dem Fuß das Gesicht zu Mus zertreten. Die erschrockenen, uns vertrauten anderen Teilnehmer legten ihr ein Kissen neben mein Gesicht, auf das sie einstampfen könnte. Aber die hasserfüllte symbolische Handlung genügt ihr nicht, sie hob ihren Fuß direkt über mein Gesicht; ich hatte nur einen kurzen Moment Angst, bis mir klar wurde, sie würde es nicht konkret tun, sondern sich noch unter Kontrolle hat. Aber sie fühlte sich verstanden, als ich sagte: der Hass habe ein frühe, präverbale und magische Gewalt, und Sprache und Symbolhandlung hätten nicht genügt, um ihn auf diese angemessen Ebene auszudrücken und abzuführen. Nachträglich gefragt, was der Auslöser für die Regression in den Urhass gewesen sei, sprach sie ein wiederholtes Blickerlebnis mit der Mutter an: kalt und abweisend, und meinte: dies könne auch der frühe, ja früheste Blick der Mutter gewesen sein, als sie als Mädchen zur Welt kam.
Dass sich eine jahrelange, fast erbärmliche Wehrlosigkeit und Resignation in diese kurze Hassorgie verwandeln konnte, ließ den Teilnehmerkreis zunächst einige Zeit stumm, fast andächtig vor diesem destruktiven Affekt, der sozusagen lebenslänglich abgewehrt und in ein selbstausbeuterisches Helfersyndrom transformiert werden musste, mit dem entsprechenden ebenso lebenslänglichen Erschöpfungssyndrom. Die Angst, jemals im Leben Aggression und Stärke zu zeigen, wurde damit verständlich.
In der nachfolgen Besprechung ging es natürlich um die Frage: Was war und ist der Krankheitsgewinn der Wehrlosigkeit? Welches Selbstbild kann sich so sehr verfestigen, dass sogar die Phantasie von Stärke oder die Sehnsucht nach ihr ausgeblendet werden muss. Es bietet sich an die Übernahme eine schicksalhaften Opferidentität; die Idealisierung des Nachgebens und Duldens, ein Jenseitslohn, sozusagen Pluspunkte im Himmel, eine Demut vor schicksalsgegebener Schwäche. Aber die Gruppe rebellierte: es war das zweite Mal, dass die Kollegin die Gruppe zunächst zu mitleidsvoller Einfühlung verführt, dann aber zu wachsender Wut gedrängt hatte: „Die eigentlich Mächtige bist du“, hieß es fast erbarmungslos deutlich, und es folgten diagnostische Erwägungen zur Transformation von demonstrativer Ohnmacht in Macht und Lahmlegung des Partners oder ganzer Gruppen. Unbewusst kommt es zu schwer zugänglichen Phantasien eines Rachenengels, der mit ungeheurer Macht die nie erlebte Gerechtigkeit wieder herstellen kann und die Erlösung im Triumph über die Gegner ermöglicht. Aber diese Phantasien verlängern die Ohnmacht, weil die Gerechtigkeit und die Rache nur mit äußerer Hilfe imaginiert werden kann. Das böse Introjekt flüstert dem Patienten zu: „Du bist die Stärkere!“, und brüllt dem Therapeuten höhnisch zu: „Du Schwächling, ich schaffe euch alle, der Sieg gehört mir!“
Wenige Tage nach der Niederschrift dieser Episode erhielt ich von einer knapp 80-jährenPatienten, die sich Jahrzehnte nach einer ergebnislosen Lehranalyse in der späten Therapie bei mir mit dem Gesicht ihre Mutter auseinandersetzt, folgenden Brief, in der sie sich mit ihrer in ihrer Biographie tief verankerten Situation als unerwünschtes Baby auseinander setzt:
„Liegen nach der Geburt oder in den Tagen danach heißt: ausgeliefert zu sein, Ohnmacht zu erleben, die Angst, vernichtet zu werden. Es ist die Erwartung, gesehen und angenommen zu werden. Noch liegend erfahre ich eine entscheidende Grenzsituation nach dem Drama der Geburt: erschöpft, hilflos, völlig ohne Orientierung.. Ich erfahre den vielleicht lebensprägenden Augenblick: Die Mutter sieht mich an und nimmt mich an oder sieht weg und lehnt mich ab. … Ich glaube auch, dass meine Mutter wegsah und ich dazu verdammt war, mein Leben lang ihren Blick zu suchen, und scheiterte.
Ich meine auch, dass schon das Kind dann sich selbst die Schuld gibt, wenn es ihm nicht gelungen ist, die Freude der Mutter an seinem Dasein zu wecken. Es übernimmt auch die Schuldgefühle der Mutter, die sich natürlich Vorwürfe macht, bewusst oder unbewusst, dass sie ihr Kind nicht lieben kann.“ Und die Kindertherapeutin fährt fort:
„Man sieht es an dem verhangenen Blick eines Säuglings, wenn er nicht liebevoll angesehen wurde und wird.“ … „Und dann die Erfahrung der Wut, wenn die Wünsche, liebevoll angesehen zu werden, nicht erfüllt werden. … Ich glaube, ich bin ständig gegen eine Wand gefahren mit meinen Wünschen … und habe dabei eine archaische Wut auf sie entwickelt. … Mein Blick ist dann auch verhangen und ich verstecke mich. Ich schäme über mich und die Lieblosigkeit meiner Mutter.“
„Vielleicht war der erste Blick meine Mutter ja auch erschrocken nur auf mein Geschlecht gerichtet. Damals gab es noch keinen Ultraschall. Mädchen, das bedeutete für sie: Minderwert, Konkurrenz. Ein Junge hätte Aufwertung versprochen. Mein Vater hoffte auf ein Mädchen, er sagte das immer wieder, aber er ist gestorben, als ich vier Jahre alt war.“
Die katholische Kirche hat viel um diesen destruktiven Blickkontakt gewusst, dem Gläubige früh ausgesetzt waren. Sie hat das Antlitz oder das große Auge Gottes an die Decken vieler Kirchen gemalt, soweit es den Malern möglich war, mit gütigem, liebevollem Blick, dem die Kirche aber oft auch den angstmachenden Kontrollblick beigemengt hat.
Therapeutische Varianten
Aber wie geht man therapeutisch mit dieser Kluft zwischen der Dulderin und dem Biest, zwischen Hölle und Paradieshoffnung um. Inszenierung und Körperpsychotherapie erscheinen mir als Weiterungen der Möglichkeiten der sich immer weiter ausdifferenzierenden Potenz klassischer Tiefenpsychologie und Psychoanalyse. Sie vertraut die auf die Kraft des Wortes und die Arbeit an der Übertragung. Der Umgang mit der projektiven Identifikation, der weiß, dass der Patient uns zur Übernahme gefährlicher Affekte zwingen kann, ist in vielen Fällen eine Lösung: die in den Therapeuten injizierte Ohnmacht und der Hass kann als Gegenübertragung verstanden, innerlich prozessiert und entgiftet zurückgegeben werden. Aber die Höllenqualen des schwer Traumatisierten mit dem reaktiven Zerstörungshass überfordern das Arbeitsbündnis, die Übertragung droht die Beziehung zu zerstören. Dann liegt die Versuchung nahe, die Konflikte auf einer „harmloseren“ normal neurotischen Ebene“ anzugehen, Stagnation oder Abbruch sind oft die unausweichliche Folge.
Inszenierung bedeutet: der Therapeut wird zum Regisseur, steigt aus aus der drohenden, aber selten in der angemessenen Heftigkeit erlebbaren negativen Übertragung. Er stellt die bedrohlichen Objekte und Introjekte nach außen, er lädt zur Externalisierung ein, nachdem er versucht hat, sie zu definieren und ihnen Namen zu geben. Dann kann sich der Patient unter dem Schutz des Therapeuten gegen sie wenden, sie, erkennen, entlarven, beschimpfen oder verurteilen, und zwar mit einem ermutigten Affekt, der keinen realen Schaden mehr anrichten kann. Doch oft ist nicht nur Ermutigung, sondern körperlicher Halt notwendig, sogar die Möglichkeit, dass der Patient sich hinter dem Therapeuten verstecken darf, der als Anwalt die erste Anklage führt. Noch hilfreicher, um die Wucht der Introjekte zu entdecken, ist es, wenn der Patient es wagt, selbst die Rolle der unbarmherzigen Angreifer zu übernehmen. Man kann ihn bitten, als der Zerstörer, der Saboteur, die Hexe, der Diktator oder der Berserker seinen Platz im Raum zu wählen und zu versuchen, mit deren Stimme zu sprechen. Es ist erstaunlich, wie rasch Position, Stimme und Haltung es dem Patienten erlauben, seine tiefe Identifizierung mit den bedrohlichen Introjekten zu erkennen und sogar den Ausdruck ihrer Macht wiederzugeben und zu genießen. Er erfährt so, welche inneren Gespenster Macht über ihn und seine Umwelt haben, er kann aber auch anerkennen, welche Schutz- und Überlebensfunktion sie für ihn hatten. Er spürt aber auch, wie sehr sie von seiner Vitalität zehren, die er ihnen übergeben und abgetreten hat. Wenn der innere Hasser und Selbsthasser sich abschwächt und sich in handhabbare Aggressivität verwandeln lässt, können auch die lähmende Resignation und die Depression sich abschwächen. Ein anstrengendes Geduldspiel bleibt der Prozess in jedem Fall.
Blick und Berührung
Das antike Symbole eines lieblosen, bösen, ja rächenden oder tötenden Blicks war das Haupt der Medusa. Wer es sah, erstarrte vor Schreck. Nicht umsonst haben Griechen und Römer dies Antlitz auf die Kampfschilder gemalt, um den Mut der anstürmenden Gegner zu lähmen. Es muss aber auch das rettende Gegenbild geben, ein Gesicht, das Rettung verspricht, Heilung und Erlösung. In der Bioenergetik ist eine wichtige Übung in der Ausbildung, dem liegenden Teilnehmer mit einem freundlichen, einladenden Gesicht entgegen zukommen. In der regressiven Position hat das eine rasche, belebende Wirkung. Manche Protagonisten des Versuchs brechen aber auch in Tränen aus, weil die Trauer der langen Entbehrung sie überkommt, sie geraten in eine Art Blitzübertragung und spüren, welche Auswirkungen das frühe mütterliche Gesicht auf ihr Lebensgefühl hatte.
Der nächste Teil der Übung hört sich fast grausam an, würde sie nicht übungshalber sofort wieder abgebrochen: das Gesicht des Therapeuten soll erstarren, erkalten oder Widerwillen ausdrücken. Die Wirkung erfolgt in Bruchteilen von Sekunden: entweder der Blick des „Kindes“ wendet sich entsetzt ab, der Tonus sackt ab, es versucht, dem Blick auszuweichen; oder aber es stürzt sich in Anstrengungen, den Blick aufzuhellen, er wirbt und lächelt. Wenn er erfolglos bleibt, treten ihm Tränen in die Augen, oder es erstarrt selbst. Umgekehrt kehrt Leben in es zurück, sein Lächeln wird begeistert, und wenn die Scham es nicht hindert, kann es anfangen zu zappeln vor Glück.
Die klassische Psychoanalyse hat sich im Gefolge von Freud, der das Angestarrt-Werden über viele Stunden nicht ertragen konnte, dafür entschieden, dem liegenden Patienten das Gesicht des Therapeuten zu entziehen, angeblich auch zu dessen Gunsten: er soll die Freiheit des Raumes für die Assoziationen und die Entwicklung der Übertragung haben. Für gut strukturierte Patienten, die wenigstens teilweise präsente und gute innere Objekte haben, ist dieses Setting gut geeignet, in eine heilsame Beziehung einzutreten. Worte und Stimme des Analytikers sind ausreichende Nahrung, an der der Patient sich abarbeiten oder genesen kann.
Anders die Patienten, die kein lebensspendendes Gesicht konstant erlebt haben und keine haltende innere Bilderwelt entwickeln konnten. Sie können auf der Couch verhungern, und die präverbalen Regionen ihres Unbewussten bleiben unentdeckt und werden nicht, oder nur destruktiv, in die Beziehung einbezogen. Lässt der Therapeut den Patienten, wie es in Borderline-Therapien auch als sogenannter „Parameter“ üblich ist, sich aufsetzen, verliert der ein Teil der frühen Regressionsmöglichkeit und muss vorzeitig in die Sprachwelt eintauchen, das heißt, er wird klug, aber er hungert.
Für mich hat es sich als sehr fruchtbar erwiesen, mich so neben die Couch zu setzen, dass der liegende Patient mich bequem sehen kann. Es geht dabei um mehrere Formen der Nähe, bei denen der Patient Vorbereitung und eine Mitsprache braucht. Dies fördert seine Autonomie auch in einem sehr regressiven Zustand, wie es das Kleinkind wie selbstverständlich durch Gesten und Laute in Anspruch nimmt, in der Hoffnung, dass die Mutter die Zeichen versteht. Der Analytiker macht also sein Angebot, stellt seinen Sessel so, wie der Patient es wünscht. Der Blick des Patienten kann wechseln zwischen Schauen und scheuem oder verlegenem Wegschauen. Ein tiefes Beziehungsbedürfnis führt oft zu einem Blick, der Verschmelzung sucht, aber auch Orientierung, ein Studium des anderen Gesichts. Ich nenne es das Stadium der Augenweide, bei der der Patient gleichsam Spiegelung, Trost und Antwort trinkt. Die meisten Analytiker, die sich darauf einlassen, müssen diesen innigen langen Blick erst einmal auszuhalten lernen. Nicht selten quellen Tränen hervor, zu denen der Patient vielleicht seit Monaten oder Jahren keinen Zugang mehr hatte. Trauer und Erlösungsglück können sich mischen. Aber es kann vorübergehend auch mörderische Wut in den Augen des immer auch mitpräsenten Biests aufblitzen, aus Rache, dass ein solches Gesicht so wenig präsent war oder die falsche seelische Antwort gegeben hat. Es kann durchaus eine Paradieshoffnung entstehen, so wie das Gesicht der Mutter aus psychischen und körperlichen Nöten eine Erlösungshoffnung bereitstellt.
Die Nähe lässt sich nach dem Prinzip der multimodalen Zuwendung vertiefen, indem man seine Hand anbietet: es entsteht ein zweiter Kanal für die Beziehung, die durch den dritten Kanal der Sprache, oder einfach nur der Lautgebung, erweitert werden kann.
Vorübergehend treten die Seele wie der Körper in seinen vielfältigen Äußerungen und in seiner unerwarteten Besetzbarkeit in die symbolische Rolle von Heimat. Verlorenes Urvertrauen kann sich in erträglicher Dosierung und in kleinen, immer neu überprüften Schritten neu bilden. Dabei können immer wieder Abbrüche, Abstürze und Attacken von Urmisstrauen geschehen. Andere, intensivere Formen leiblicher Präsenz und Aktivität habe ich in meinem Taschenbuch „Berührung auf der Couch“ beschrieben, bei denen es dann auch um Abgrenzung, Schutz, Kampf oder eine Beziehungsform gehen kann, die ich als „liebevolle Gewaltsamkeit“ bezeichne, wie sie jedes Kind praktiziert, aber die so vielen Patienten in er Kindheit am Körper der Eltern nicht möglich war. Diese dient auch der Rückverwandlung einer indirekten, vergifteten, hämischen oder zynischen Aggressivität, wie sie durch früh unterdrückte Körperlichkeit verdorben wurde, in vitale und nichtdestruktive Lebensäußerungen.
Alle diese Varianten sind in abgewandelter Form auch praktizierbar im Sitzen, da viele psychologische Therapeuten nicht mit der Couch arbeiten. Aber auch diesen empfehle ich beim Umgang mit traumatisierten Patienten, eine Liegemöglichkeit in Reserve zu halten, weil der Neubeginn einer verheißungsvollen Beziehung, die schon in frühem Stadium entgleist ist, in der Regression leichter zu ermöglichen ist. Je mächtiger das zwangsläufig entstandene, aber oft tief verdrängte Biest ist, desto mehr sehnt sich der Patient nach lösenden oder erlösenden Instanzen, für die er oft genug Ersatzlösungen gefunden oder übernommen hat. Heilsam Nähe erlaubt ihm aber auch, sich von den Ersatzlösungen und glücksverheißenden falschen Angeboten zu trennen und einen eigenen Sinn im Leben zu finden.
Vielfacher realer und seelischer Heimatverlust: Verwirrung als Schicksal
Die heute 79-jährige Patientin verlor mit vier Jahren ihren Vater nach einer schweren Autoimmunerkrankung. Sie hatte aber längst vorher quasi ihre Mutter verloren, sie sie als zweites Kind nicht wollte und sie abzutreiben versuchte. Das Kind wird abrupt nach Berlin verpflanzt in einer Pflegefamilie, weil die Mutter nicht ihre Karriere gefährden will. Sie wird mit sechs Jahren eingeschult, zusammen mit Kindern von Nazigrößen, die von Empfängen beim Führer schwärmen. Die Kleine begeistert sich für die optischen Bilder des Nationalsozialismus und träumt davon, eines Tages den Führers sehen zu dürfen. In der links eingestellten Pflegefamilie wird sie beschämt für ihre Schwärmerei und verliert die Heimat in der Klasse, lernt sich zu tarnen. Bei Kriegsende liegt sie mit einer Sepsis ohne Besuch sechs Monate in einer weit entfernten Kinderklinik ohne Besuch. Sie weiß nicht, ob ihre Angehörigen überlebt haben. Nach der Genesung gelingt es der Mutter, die evangelisch aufgewachsene Tochter in katholischen Schulinternaten unterzubringen, sie wechselt aus verschiedenen Gründen fünf Mal das Kloster, bis sie die letzten Jahre vor dem Abitur zum ersten Mal an einem festen Ort verbringen kann. Der Preis: sie wird als Ketzerkind auf katholisch umerzogen und zu Konversion gedrängt. Sie wechselt mit Eifer die Religion, weil sie heimisch werden will bei den Nonnen, denen sie ihr Überleben verdankt. An den Wochenenden darf sie gelegentlich nachhause zu ihrer antikirchlich spottenden Mutter fahren und leidet unter dem regelmäßigen Milieuwechsel.
Sie beginnt, um einen Brotberuf zu erlangen, en Lehrerstudien, ihr Traum ist aber die Kunstakademie. Sie zieht, weitgehend ohne den egozentrischen Ehemann, der absolut, nach einer auf demütigende Weise geplatzten Verlobung eindeutig zweite Wahl ist, ihre Kinder groß. Die Nonne bezichtigen sie, weil sie heiratet, des Verrats, weil sie eigentlich für die klösterliche Laufbahn vorgesehen war. Tiefe Schuldgefühle über das Versagen begleiten ihr Leben. Da sie nicht nach der Kinderpause in die Schule zurück will, beginnt sie ein kindertherapeutische Ausbildung in einem Milieu, das in seiner indoktrinierenden Struktur die Klosteratmosphäre wiederbelegt. Sie bleibt heimatlos als hoffnungslose Außenseiterin.
Ich lerne sie kennen, als sie, durch die als extrem uneinfühlsam erlebte Lehranalyse traumatisiert, bei mir aufgrund eines körpertherapeutischen Buches Hilfe sucht. Aber die loyale Bindung an das Institut sitzt tief, sodass sie wiederum die als rechtgläubig verinnerlichte Heimat verliert und mich über sehr lange Zeit als Ketzer verdächtigen muss, den wie widerwillig und unter Trennungsschmerzen anfängt zu schätzen. Der theoretische wie behandlungstechnische Heimatverlust ist zunächst wiederum traumatisch und dennoch allmählich hilfreich. Sie beginnt nach dem altersbedingten Ende ihrer Praxis endlich zu zeichnen und zu malen, eingeigelt in einem winzigen Atelier, kontaktscheu und willens, sich nie mehr einem Menschen anzuvertrauen. Sie steht mit mir unzählige Trennungskrisen durch, bearbeitet Trauer und eine tiefe Resignation, aber kann sich an das Malen wie an eine letzte hilfreiche Identität klammern. Über ihrem Leben steht als quasi endgültige Diagnose: Verwirrung als Lebensschicksal. Als sie spät in ihrem Leben ihre Heimatstadt besucht, gibt es die Straße, in der sie als Kind vier Jahre lebte und einige Bindungen an Vater und Nachbarskinderund landschaftliche Geborgenheit eingegangen war, nicht mehr.
Die lange Analyse wird trotz ungeheurer Ambivalenz und beobachtendem Misstrauen in meine Zuverlässigkeit eine auch mir bis dahin unbekannte seelische Heimatsuche. In vielen Stunden helfe ich ihr, die Erinnerungen hochkommen zu lassen und auszuhalten, indem ich, wenn sie mir nicht gegenüber sitzt, neben der Couch sitze und ihre Hand halte, um einen Container zu bilden für oft unaushaltbare Gefühle, unter anderem die Angst, wann ich sie loswerden will, oder wann ich nicht wiederkomme aus dem Urlaub, so wie ihre Mutter nicht mehr wiederkam und sie später nur für kurze Wochen in ihrer Nähe duldete. Während einiger meiner Abwesenheiten studiert sie in der Heimatzeitung Todesanzeigen mit der bangen Frage, ob ich auftauche unter den Verstorbene oder durch Unfall Umgekommenen, oder sie überprüft Nachrichten; ob es in meinem Urlaubsgebiet, das ich immer mit Adresse nenne, Natur- oder politische Katastrophen gab. Es war ihr aber jahrelang in ihrer Gewöhnung an passive Hilflosigkeit unmöglich ,mich anzurufen, die Angst, mich, wie in langen Jahren ihr Mutter, zu stören oder ärgerlich zu machen, war unüberwindlich.
Die wachsende Bindung an mich erlebte sie einerseits dankbar, andererseits als kontinuierlichen Verrat, besonders dann, wenn ihr die vielen kritischen oder traumatischen Mitteilungen als schuldhafte Illoyalität erschienen: Verrat an der Pflegefamilie, an den Klöstern, an ihrer Mutter, an ihrem eifersüchtigen Mann, an ihrem Institut, ihrer Lehranalytikerin. Sie war immer hoffnungsvolle Bindungen eingegangen, um Halt zu finden, und sie erwiesen sich als untauglich für die Bildung eines Heimatgefühls. Ihre Klagen über die Einsamkeit waren oft schwer erträglich, aber sie verbot mit die positive Erwähnung von Personen, die durchaus Kontaktwünsche an sie richteten. Die Bindung an ein leidvolles Außenseitertum war nicht zu durchbrechen, einzig ihre beiden Enkelinnen gaben ihr das Gefühl, wirklich noch gebraucht zu werden. Kleine erfolgreiche Ausstellungen gaben ihr für einige Tage Lebenssinn, bis die nächtlichen Panikzustände sie wieder einholten. Wenn sie nachts durch die Dachluke den wolkenfreien Sternenhimmel betrachtete, empfand sie einerseits eine kosmische Einsamkeit, konnte aber Kindergebete murmeln, ein Regression, über die sie sich am andern Morgen schämte. Denn Gott war ihr längst abhanden gekommen, und sie erlebte es als Verrat an ihrer Tapferkeit, das Leben eben malend auszuhalten.
Ich bin in vielem von einemorthodoxen Gang der Analyse abgewichen. Ich gab ihr körperlichen Halt, ich halt ihr beim Rollenspiel, ihre tief verdrängten Affekte gegenüber Personen oder Introjekten auf dem leeren Stuhl vorzuformulieren, bis sie sie mit eigene Worten und Gesten ausdrücke konnte. Ich stellte ihr seit einiger Zeit regelmäßig Tee neben ihren Sessel, besuchte sie im Atelier, kaufte einige Bilder, verschaffte ihr einige Käufer, vor allem würdigte ich einige ihrer ausdrucksstarken Bilder in deutenden Aufsätzen, die sie in meinen beiden Bildbänden „Kunst und Psyche“ unter dem Titel “Der überfüllte Kopf“ und „Die innere Familie“ wiederfinden.