Die Tränenreise
Tilmann Moser (2013)
Ein seltsames Wort, es könnte aus einem orientalischen Märchen stammen, meint aber hier etwas ganz Anderes: Ein über siebzigjähriger, ehemaliger höherer Beamter kam seit zwei Jahre in unterschiedlichen Abständen, eine Zeit lang vierzehntägig, zur Therapie, wegen einer für ihn fast lebenslang anhaltenden Depression mit unterschiedlich heftigen Phasen. Mehrere Therapieversuche waren gescheitert, ein Analytiker, in dem er einen Vaterersatz gefunden zu haben glaubte, meinte ihn in seiner dankbaren Anhänglichkeit zu ehren, indem er ihn mit Aufträge in seinem Fortbildungsunternehmen beschäftigte. Der fühlte sich auch lange geehrt, bis er merkte, dass er ausgebeutet wurde, hingehalten mit der Hoffnung, selbst Psychotherapeut werden zu können.
Er berichtete von seiner über 35-jährigen schwierigen, aber stabilen Ehe, die für beide Lebensrückhalt und symbiotische Geborgenheit bot. Sexualität spielte seit langen Jahre keine Rolle mehr, er litt schwer darunter, sie war früh missbraucht worden und wollte von erotischer Nähe nichts mehr wissen. Vor mehr als eineinhalb Jahr erkrankte die Frau an Krebs, durchlitt mehrfach das Schwanken zwischen Hoffnung auf Genesung und Rückfall, Operation, Chemotherapie und Bestrahlung. Er pflegte sie mit einer Mischung aus Hingabe, Fürsorglichkeit und Attacken von Wut über seine zunehmende Angst, „demnächst“ durch ihren Tod verlassen zu werden. Er geriet gelegentlich in Panik wegen der drohenden Einsamkeit und war schon während des quälend langen Sterbeprozesses in Gefahr, einem alten Suchtverhalten erneut zu verfallen. Schon während der letzten Ehejahre, zunehmend aber während ihrer Krankheit und erst recht nach ihrem Tod suchte er vermehrt übers Internet Trost bei Prostituierten, in der immer wieder brutal enttäuschten Hoffnung, dort Linderung und stabile Zuneigung zu finden.
Er hielt das Ausmaß seiner Verzweiflung und seiner Trauer nicht aus, schaltete alle Gefühle ab und „entwirklichte“ seine Frau so, dass er auch keine kontreten Erinnerungen mehr spürte oder zulassen konnte. Er klagte darüber, dass er nicht weinen könne, obwohl ihm die Tränen oft in der Kehle oder in trockenen Augen stecken blieben. Dann fühlte er sich außerdem noch schuldig und bezichtigte sich eines steinernen Herzens.
Wenige Male hatte er in der Stunde erschütternd geweint, sich schütteln lassen in einem Weinkrampf, während dem er sich die Haare raufte oder sich auf dem Sessel in sich zusammensacken ließ. Er schämte sich dann, staunte dann aber erleichtert, als ich ihn geradezu beglückwünschte, dass er sich, wen auch unkontrollierbar, seiner Verzweiflung überlassen hatte. Er konnte aber auch voller Wut seine Frau anklagen dafür, dass sie ihn verlassen habe, „Du konntest doch wissen, dass das mein Untergang sein könnte!“ Ich sagte, ich vermutete einen ganzen See von Tränen in seinem Inneren, der würde uns noch längere Zeit zu schaffen machen, er sei auch ein Zeichen seiner Liebe, auch wenn ein kleiner Teil des Sees immer nur in den Stunden abfließen dürfe. Manchmal war der Satz „Nie wieder werde ich Dich neben mir sehen!“ der Auslöser für ein konvulsivisches „Flennen“, wie er er danach abschätzig nannte. Und: „Ich finde es verrückt und demütigend, zum Heulen nach Freiburg fahren zu müssen, und in meiner Wohnung stiefle ich stundenlang herum und fühle mich wie abgestorben. Ich sehe sie nicht mehr vor mir, kann nicht mit ihr sprechen, ich esse nicht mehr und überlege, ob ich mich nicht einfach verhungern lassen soll, ein entfernter Verwandter hat es auf diese Weise geschafft zu sterben.“ Aber er spürte, dass das heftige Weinen in meiner Gegenwart ihm gut tat, nur klagte er, er sei nach der Doppelstunde immer maßlos erschöpft.
Ich wusste von anderen Patienten, wie sehr einige litten unter ihrer Unfähigkeit zu weinen. Manche sagten auf meine Frage nach ihrem letzten Tränen: „Im Kindergarten, in der Grundschule“, einige auch „im Kino oder im Traum“ oder „beim Anblick eines gescholtenen oder geschlagenen verzweifelt weinenden Kindes“. Allmählich lernte ich, nach lösenden oder erlösenden Worten zu suchen, nach Einfühlungsangeboten, die intuitiv ins Zentrum der Hemmung führten: des Verbotes, der Scham oder der Angst vor der befürchteten Unendlichkeit des des Kummers oder dem Kontrollverlust.Manche konnte weinen, wenn ich ihr Hand hielt oder meine Hand auf ihre Brust legte und also einen container anbot für das Übermaß der Trauer.
Bei diesem Patienten half der Vorschlag, die Verschwundene und nicht einmal mehr symbolisch erinnerbare Frau mit ihrem Vornahmen auf dem leeren Stuhl anzusprechen: „Carla, du warst mir vor Kurzem noch so nah“, oder “Carla, du weißt gar nicht, wie dankbar ich dir bin, dass du fünfunddreißig Jahre mit mir ausgehalten hast“ oder „Carla, wir hatten ein satirische Geheimsprache, wenn wir, im Café sitzend, vorübergehend Menschen beobachtet haben“. Dann konnte ihn die Trauer überkommen und die Tränen flossen wie in einem Sturzbach. Das Ansprechen des geliebten Vor- oder Kosenamens öffnete die Schleusen, und er schwankte zwischen Dankbarkeit für den „Schleusenwärter“ und Scham über die, wie er es nannte, „unkontrollierbare Erschütterung“.
Die Qual des Verbots des Weines oder der selbst auferlegten Hemmung wird manchmal idealisiert, sogar mit verinnerlichten mütterlichen oder väterlichen Stimmen: „Ein Junge doch nicht!“, als Tapferkeit oder geronnene Selbstkontrolle, als höhnisches Überlegenheitsgefühl über plärrende Geschwister oder Schulfreunde, die über eine schlechte Note in „Geheul“ ausbrechen konnten. Manche hatten das Weinen auch einer depressiven oder kranken Mutter geopfert: „ihr das Leben durch eigenes Leid nicht noch schwer machen“, also ein Verzicht aus Schonung, der sich verfestigte lange über die jahrelange kindliche Hemmung hinaus.
Für manche konservativen Psychotherapeuten, die vor findiger Aktivität zurückscheuen, weil sie sie einen solchen Eingriff für zudringlich halten, ist es schwer denkbar, immer wieder selbst nach den Schlüsselworten zu suchen, die die Hemmung wenigstens vorübergehend aufheben. Aber die Patienten sind dankbar, wenn die „Tränenreise“ zum Erfolg führte und nicht mehr als demütigend erlebt wird. Vereinfacht ausgedrückt, entsteht sogar Solidarität: „Wir sind ein Team, das den Weg zu den Tränen gefunden hat.“ Nach der Erschöpfung kommt Erleichterung, erst recht, wenn der Weg zu einem „Wutweinen“ geführt hat, das lange zurückgehaltenen Zorn befreit. Denn mühsam oder längst unbewusst zurückgehaltene Tränen verbrauchen Hemmungsenergie. Um es drastisch zu formulieren: Bei den vergangenen Hochwasserkatastrophen mussten ursprünglich schützende Dämme sogar gesprengt werden, damit sich die gestauten Fluten einen neuen, weniger gefährlichen Weg suchen konnten. Dem Therapeut ist kein Sprengmeister, auch wenn einige „puschende“ Therapieformen das stolz so nennen würden, sondern eben “Schleusenwärter“, die den taktvoll Abfluss vorsichtig, sensibel, aber durchaus aktiv zu fördern vermögen. Es gibt das „Geschenk des Weinkrampfs“, auf das man gelegentlich geduldig hinarbeiten darf, oder auch auf ein langes und stilles Weinen, das die Betroffenen oft voller Scham hinter den Händen zu verbergen suchen. Man muss nur unterscheiden lernen zwischen denen, die die Aufhebung der Hemmung befreit, und denen, für die Weinen längst eine suchtartige Dauerzuflucht geworden ist, die sie nicht mehr stoppen können oder wollen, die aber das Ich nicht mehr stärkt, sondern eine gefährliche Dauerhaltung als Opfer noch verstärkt.
Der Schleusenwärter in Tätigkeit
Zwei Wochen später: Der Patient kommt mit zermürbten Gesicht, Trauer und Verzweiflung sind in sein Gesicht eingeschrieben. Er klagt, verkrampft vornüber gebeugt, dass er seine Frau nie mehr sehen wird. Ich erschrecke ein wenig in der Sorge, dass das zu einem sterilen Dauerklagen wird. Als ich ihm aber vorschlage, den Satz zu seiner Frau zu sprechen, löst sich der Stau sofort, das spontan einsetzende Weinen wird zum Weinkrampf, der ihn schüttelt. Bis er sich wieder erleichtert fasst. Er habe wieder zwei Wochen nicht weinen können, irre durch seine Wohnung, aber er fange an, seine Wohnung auf- und umzuräumen, wie seine Frau es ihm fürsorgllch vor dem Tod auf einen Zettel geschrieben habe. Ich schlage ihm erneut vor, den Satz mit Nennung ihre Namens zu ihr zu sagen: erneutes heftiges Weinen, dann: „Damit wäre sie zufrieden.“
Und dann kommt Leben in ihn: Er hat Großvaterglück mit dem Säugling seiner Tochter entdeckt, deren zwei bereits etwas ältere Kinder er zwar liebt, besonders seinen 5jhrigen Enkel, dem er ab und zu den verloren gegangene Vater ersetzt. Aber was ihn jetzt überkommt, hat eine andere Dimension: Er muss weit reisen, um das Baby zu sehen, gelegentlich Schreikind, das er zu beruhigen vermag, voller Stolz, und die alleinerziehende Mutter dankt es ihm mit einigen freien Stunden. Als ich wieder vorschlage, die seiner verstorbenen Frau mitzuteilen, kann er erneut weinen und meint: „Das ist doch grotesk, ich Reise nach Freiburg, um alle zwei Wochen weinen zu können!“
Er akzeptiert den tröstlichen Gedanken, das er mit seiner Frau in eine kooperative, solidarische Spätbeziehung eingetreten ist. Er will ihr Foto aufstellen und davor zu ihr sprechen, in der Hoffnung, dass er auch zuhause um sie weinen kann. Und er akzeptiert meinen Vorschlag, das ihr liebste Kleid einmal sichtbar in der Wohnung aufzuhängen. Er hatte zu seiner schmerzlichen Verwunderung sich nie ihr Gesicht erinnern können, sicher aus Abwehr der überwältigenden Trauer. Und sie hatte, schon vom Krebs gezeichnet, ein paar bunte neue Kleider gekauft, wie um ihren verblassenden Lebenswillen noch einmal zu festigen, und bei der Vorstellung, sich eins der Kleider sichtbar aufzuhängen, kann er erneut weinen.
Voller Ungeduld hatte er schon wenige Monate nach ihrem Tod gegen sich gewütet, das muss doch endlich zu Ende sein, diese verzweifelte Sehnsucht nach ihr. Er atmet auf, dass als ihm das Bild eines Stausees der Trauer male, der nur langsm leer laufen kann; und dass sein See wegen der symbiotischen Jahre größer sei als die Durchschnittsdauer des Abfließens von einem Jahr. Dadurch fühlt er sich verstanden und nicht mehr so abnorm in seinem für ihn unendlich scheinenden Kummer.
Als ich ihn frage, was für ihn die wichtigste Eigenschaft von ihr gewesen sei, sagt er scheu: „Das Chaos, das sie in der Wohnung verbreitet hat.“ Als er ihr das mitteilt, erneutes Weinen. Alle Botschaften für nach ihrem Tod hat sie auf Zettel geschrieben, die er nicht weggeräumt, sondern verstreut lieben gelassen hat und erinnert sich, wie sie ihn auf den Arm genommen hat wegen seiner Ordnungswut. „Sie hat mich gelehrt, auch mal fünf gerade sein zu lassen, ohne dass die Welt untergeht.“ Und beim Gedanken an ihren wohlwollenden spöttischen Humor kann erneut in Tränen ausbrechen. „Sie konnte gegen meinen Grundpessimismus dem Leben gegenüber so herzhaft spotten, dass wir immer wieder beide in Gelächter ausgebrochen sind. Ihr Humor war unverwüstlich, auch als sie schon im Sterben lag.“
Zwei Doppelstunden später
Der Schleusenwärter bleibt im Dienst. Der Patient hat den Text zustimmend gelesen und fühlt sich gut gesehen. Schon bei diesen Worten bricht er in Tränen aus, und er kann in Wellen weinen, als er berichtet, wie er mit meinen Anregungen umgegangen ist: Er hat Bilder seiner Frau aus verschiedenen Phasen der Beziehung aufgehängt und sie immer wieder auf gemeinsame Erinnerungen angesprochen. Er nennt dabei ihren Vornamen, lässt viele Tränen zu, fühlt sich dann erleichtert. Er berichtet stolz, dass das „Räumen“ in der Wohnung erfolgreicher wird. Er bedankt sich bei ihr für die vielen fürsorglichen Ratschläge, die sie ihm hinterlassen hat. Nur mit der Ernährung hapere es noch: Er habe versucht, alleine Essen zu gehen, sich dabei aber so elend gefühlt, dass er das Lokal rasch wieder verlassen habe. Nur das Musizieren sei ihm fast problemlos erhalten geblieben, er besuche regelmäßig die Orchesterproben und spiele in zwei Quartetten. Die letzten Viertelstunden der jeweiigen Doppelstunde legt er sich auf die Couch, erbittet meine Hand, die er mit festem Griff nimmt, schließt die Augen und tankt Kraft und Ruhe. Wenn er mich um Abschied dankbar umarmt, drückt er mich mit solcher Kraft, dass mir für einen Augenblick das Atmen schwer fällt. Von der Tür aus winkt er zurück, bat schon vorher um einen nur vier Wochen voraus liegenden Termine, wir einigen uns auf drei Wochen. Er hätte fast sein Handy und seine Schlüssel vergessen und lästert: „Das wäre ein zu großer Triumph für sie gewesen, dass ich einfach nicht weggehen wollte.“