Tilmann Moser

Verletzungen und seelische Kreativität

In: „baugerüst" Heft 2/12, 2012, Interview

„Du bist in mich eingezogen wie eine schwer heilbare Krankheit" schreibt Tilmann Moser am Anfang seines 1976 erschienenen Buches „Gottesvergiftung". Der Freiburger Psychoanalytiker klagt, provoziert und teilt die Lesegemeinde. Von der „Gotteskrankheit" ist die Rede, vom „Wuchern der Tumore in meiner Seele", die Verletzungen und Narben hinterlassen. 30 Jahre später schreibt Tilmann Moser in dem Buch „Gott auf der Couch" über die heilsame Ressource der Religion bei vielen Menschen.
Über religiöse Verletzungen, seelische Wunden und bleibende Narben sowie über das Gottesbild sprachen Michael Freitag und Wolfgang Noack mit Tilmann Moser.

baugerüst: Herr Moser, in dem Buch „Gottesvergiftung" schrieben Sie: „Ich weiß, dass du in den Narben, falls ich dich aus mir vertreiben kann, bis zu meinem Tode hausen wirst". Schmerzen diese Narben immer noch?

Moser: Nein, es sind Narben da, aber die schmerzen nicht mehr. Ich bin nach wie vor sehr mit diesem Thema beschäftigt, aber ohne Schmerzen.

baugerüst: Was sind eigentlich religiöse Verletzungen, die Narben entstehen lassen können?

Moser: Religiöse Narben sind hauptsächlich Schuldgefühle. Menschen fühlen sich sündig und haben darum eine geringe Lebensfreude. Viele haben sehr stark an Gott geglaubt, unendlich gebetet und machen sich nun Schuldgefühle, weil sie keine Antwort bekommen haben. Diese Enttäuschung kann jahrelang oder jahrzehntelang als Versagensgefühl existieren, oder als Gefühl: jetzt bin ich auch von ihm verlassen, der doch gesagt hat, „ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein". Alles was Menschen, vor allem Kinder versprochen wurde, hat sich nicht eingelöst, dann entstehen seelische Wunden.

baugerüst: Ist es dann überhaupt möglich, ohne Verletzungen religiös zu sein?

Moser: Ja, das gibt es, wenn in einer einigermaßen harmonischen Familie Gott den Kindern nicht mit Gehorsamserwartung und Sündengefühlen verbunden, sondern auf freundliche Weise beigebracht wird. Wenn sich das mit dem Geborgenheitsgefühl der Familie verbindet, kann es Religiosität ohne Verletzungen geben.

baugerüst: Dann kann der Glaube auch zu einer Ressource für den Menschen werden?

Moser: Durchaus. Mediziner erleben heute in Kliniken, dass Patienten, die diesen gutartigen Glauben haben, schneller gesunden und schneller wieder Kontakt finden. Ich suche auch bei meinen Patienten, wenn sie Verletzungen bekunden, nach diesem ursprünglichen Gefühl und ob es wiederbelebt werden kann. Wenn derjenige dort nicht hin zurückkehren will, dann ist es ein oft wirklicher Abschied und ein Abschied mit der Bitterkeit der Enttäuschung.

baugerüst: Keine menschliche Beziehung ist aber von Enttäuschungen oder Verletzungen verschont, so auch die religiöse.

Moser: Ja sicher. Zum Beispiel ist es für manche Menschen eine Verletzung, dass die Wunderheilungen Jesu wahrscheinlich so nicht stattgefunden haben, sondern lediglich fromme Geschichten sind.

baugerüst: Eine Enttäuschung oder eine Verletzung?

Moser: Das kommt darauf an, welcher Anteil des Glaubens zu einer schweren Enttäuschung geführt hat und als Verletzung zurückgeblieben ist. Eine Verletzung z. B. kann sein, wenn ein Kind merkt, die Eltern geben vor fromm zu sein, schicken mich in den Kindergottesdienst, und tatsächlich tut der Vater der Mutter Gewalt an. Diese Kluft zwischen dem was gepredigt und dem was gelebt wird, zeigt sich auch in dem ganzen Missbrauchsskandal.

baugerüst: Menschen erleben im Laufe ihrer Biographie den Glauben durchaus ambivalent, als Versprechen, als Ressource, als etwas Tragendes oder eben auch nicht. Kann es denn überhaupt einen gesunden Glauben geben? Sind Enttäuschungen an sich gar nichts Schlimmes oder Dramatisches, wenn sie anschließend verarbeitet werden?

Moser: Enttäuschungserlebnisse sind sogar notwendig, damit der Glaube reifen kann. Oft gibt es ja aus der Enttäuschung heraus Zeiten, wo Menschen Gott zu vergessen versuchen und kein Kontakt zu Kirche und Glaube besteht. Plötzlich tritt irgendeine Situation ein, bei der sie das Gefühl haben, das schaffe ich nicht alleine, da brauche ich Beistand. Mancher Glaube wird als Notstandshilfe wieder in Betrieb genommen. Ich finde das gar nicht so schlecht, denn hier erfolgt eine Rückbesinnung auf eine Kraftquelle, die es früher einmal gab.

baugerüst: Sind Verletzungen prinzipiell negativ zu bewerten oder gibt es eine Art Verletzungsgewinn?

Moser: Muscheln die Perlen erzeugen werden ja durch ein Sandkorn verletzt, und um diese injizierte Stelle herum entsteht dann die Perle. Der Reiz führt zur Ausscheidung von bestimmen Flüssigkeiten, die sich niederschlagen und die Perle bilden. Dies ist für mich ein Symbol, dass Verletzungen enorme Herausforderungen sein können und Menschen auch zu großen Leistungen antreiben. Verletzungen können die Kreativität der Seele anregen, um mit dem eigenen Schicksal leben zu können.

baugerüst: Aber kann eine Verletzung nicht auch das Leben dauerhaft vergiften?

Moser: Es gibt Menschen, die bleiben verbittert und sterben verbittert, oder es gibt Menschen, die kommen von ihrer Sucht nicht los, sie müssen lebenslänglich kompensieren und verletzen dabei dann wiederum andere Menschen. Die Weitergabe von Verletzungen ist ein ganz bedrückendes Thema.

baugerüst: Ein wesentlicher Schlüssel zum Gesundungsprozess ist ja die Fähigkeit vergeben zu können. Kann der Mensch auch Gott vergeben?

Moser: Ja, wenn die ganze Enttäuschung und der Zorn einmal formuliert wurden, geht es leichter Gott zu vergeben. Für manche ist es sehr schwer, diese untergründige Wut über die Enttäuschung herauszulassen. In der Therapie bitte ich jemanden, der Gott anklagt, die Wendeltreppe in meiner Praxis hinaufzugehen und aus der Rolle Gottes auf die leidende Kreatur zu blicken. Dadurch verändert sich das Gottesbild und dann kann man ihm auch vergeben. Und wenn Gott dann sogar sagt, es tut mir leid, dass du so an mir gelitten hast, nicht alle meine Diener haben das richtige Evangelium gepredigt, dann kann man ihm auch verzeihen. Und sich selber natürlich auch. Man kann den verletzten Teil nach außen stellen und sagen, ‚ich habe es schwer gehabt mit dir, Gott.'

baugerüst: Manchmal zeigen Menschen körperliche Narben mit einem gewissen Stolz. Gibt es auch einen Stolz auf seelische Narben?

Moser: Manche Menschen sind stolz darauf, über das was sie überstanden, durchgekämpft, erlitten und damit überlebt haben. Manche behalten das still für sich, manche hausieren damit. Es gibt Menschen die sagen ‚Flucht, Konzentrationslager - ihr wisst ja gar nicht wie es war, ihr ward nicht dabei, aber wir haben es überlebt.' Manche, die mit Bitterkeit zurückschauen, sind auch stolz auf ihre Wunden. Schaut her, das hat man mir angetan. Es gibt einen Narzissmus der Verwundung.

baugerüst: Wie leicht fallen Menschen dann in die Opferrolle und kommen nicht mehr heraus?

Moser: Das ist eine ganz beliebte Falle und es ist ziemlich schwierig, Patienten, die darin jahrelang gelebt haben, darauf aufmerksam zu machen. Der Ausstieg braucht sehr viel Arbeit, weil es den sekundären Krankheitsgewinn gibt. ‚Ich bin Opfer, man hat mir Leid zugefügt, eigentlich bin ich berechtigt bitter zu sein und bräuchte Entschädigung.'

baugerüst: Führt das auch dazu, dass Menschen immer bemitleidet werden wollen?

Moser: Es gibt die Ausstrahlung von Opfern, die mit dem latenten Schuldgefühl ihrer Partner rechnen, so auch in Ehen, die darauf beruhen, dass einer das Opfer ist und der andere sagt, 'du hast es wirklich schwer, aber ich werde dich unterstützen.' Das sind Arrangements, die können ein Leben lang halten.

baugerüst: Kann Schuld auch vernarben?

Moser: Schuld kann vergessen oder verdrängt werden und sie kann vernarben, wenn es zu einer notwendigen Auseinandersetzung gekommen ist, etwa zu einem schuldentlastenden Gespräch. Die Narbe bleibt, aber sie schmerzt nicht mehr permanent.

baugerüst: Im Medizinischen sagt man ja oft, dass Narben sich verwachsen oder entstört werden müssen. Wie verhält sich das im seelischen Bereich?

Moser: Menschen mit Verletzungen wissen, welche Situationen sie vermeiden müssen, weil sonst die ‚seelische Entzündung' wieder sprunghaft wachsen kann. Orte der Verletzung, Personen der Verletzung, aber auch Personen, an denen man sich schuldig gemacht hat, müssen dann gemieden werden. Es ist ähnlich, wie wenn der Arzt sagt, ‚spielen Sie kein Tennis mehr, Ihre Schulter erträgt das nicht.' Auch im seelischen Bereich müssen bestimmte Dinge vermeiden werden, damit die Wunde heilen kann und nicht wieder aufreißt.

baugerüst: Wir würden gerne noch über Ihren Gottesbegriff sprechen. Wenn Sie in dem Buch ‚Gottesvergiftung' von Gott schreiben, gehen Sie immer von einem personalen männlichen Gott aus. Warum?

Moser: Das ist eine ganz frühe Gewöhnung. Erst allmählich hatte sich meine Theologie oder mein Gottesbild auch verändert und hat weibliche oder mütterliche Züge bekommen. Ich bin in einem katholischen Dorf aufgewachsen, da hatten wir nichts mit Maria zu tun, wir haben eher darüber gelästert, dass die Katholiken zu ihr beten und sich nicht trauten, Gott direkt anzusprechen.

baugerüst: War ein transpersonaler Gott außerhalb Ihrer Auseinandersetzung?

Moser: Damit habe ich mir nie geholfen. Ich habe mich verabschiedet von dem ursprünglich aufgenommenen männlichen Gott, der mich zum Sünder und zum Schuldigen erklärt hat.

baugerüst: In der Theologie gibt eine Tendenz Gott reinzuwaschen und eine Art Wellnessgott von allem Bedrohlichen zu befreien. Gehört zu einem Gottesbild nicht auch die Ehrfurcht, oder das Heilige, das Schaudern erzeugt?

Moser: Viele, die mit einem persönlichen Gott nicht mehr so viel anfangen können, suchen ihn aber im Atmosphärischen, in der Musik, in der Kunst, in der Natur.

baugerüst: Braucht eine gesunde Religion nicht diese zwei Seiten Gottes?

Moser: Ehrfurcht finde ich schon wichtig. Es ist unklar, an wen sie sich richtet. Es gibt die Ehrfurcht vor der Natur, die Ehrfurcht vor der Musik. Die Menschen strömen in die Johannespassion, um sich periodisch aufzuladen und kommen mit total ehrfürchtigen Gesichtern aus dem Münster. Aber das muss nicht heißen, dass sie einem persönlichen Gott begegnet sind, sondern in der Musik ist er für sie vielleicht aufgehoben.

baugerüst: Noch einmal gefragt: Braucht eine heilsame Religion, ein heilsames Gottesbild, nicht doch beide Seiten Gottes? Gäbe es keinen sanktionierenden, keinen strafenden Gott, hieße das in der Konsequenz, dass es auch keine Gerechtigkeit gäbe.

Moser: Die Christen glauben, ohne Gott gäbe es keine moralische Ordnung. Aber es gibt keine Garantie, dass der christliche Gott wirklich für Gerechtigkeit sorgt. Er fordert sie, aber ich finde, er hat nicht viel erreicht. Es ist interessant, wieviel von dieser frühen gottgegebenen Sittlichkeit in Menschen, die sich von Gott verabschiedet haben, überlebt hat. Insofern zehren wir in Europa teilweise noch von der christlichen Geschichte. In der Familie und im Freundeskreis mag das noch funktionieren, aber außerhalb z.B. in der Wirtschaft, gibt es die christliche Moral nicht mehr.

baugerüst: Kann man dem richtenden Gott davonlaufen und sich in die Arme eines barmherzigen Gottes flüchten?

Moser: Viele versuchen es und ich glaube es kann auch gelingen, weil der barmherzige Gott - wenn man Glück hat - sagt er, 'so war es nicht gemeint.' Was ich in der Therapie versuche zu sagen, erleben viele Menschen auch in der Predigt. Es wird heute auch anders gepredigt, auch die Kinder hören andere Dinge über Gott - die Religionspädagogik hat enorme Fortschritte gemacht. Aber in der Therapie beobachte ich, dass in der Seele divergente, sogar widersprüchliche Gottesbilder bestehen können, die je nach Stimmung oder Biorhythmus mobilisiert werden.

baugerüst: Um die Ecke schaut dann immer noch der ‚Eingreifgott', wie Sie ihn nennen und droht.

Moser: Von dem Eingreifgott haben sich ja viele verabschiedet, auch durch die Nacharbeit zum Holocaust. „Wie konnte er das zulassen? Warum hat er nicht eingegriffen?" waren hier die Fragen. Aber der Eingreifgott greift eben nicht mehr realitätsverändernd ein, sondern in die innere Realität. Sein Bild kann Schuldgefühle aktivieren und verändert die Gewissenslast und die Freude am Leben.

baugerüst: In der Evangelischen Jugend machen Jugendliche an unterschiedlichen Orten religiöse Erfahrungen. Halten Sie das trotzdem für wichtig?

Moser: Wichtig und richtig. Man kann Erfahrung machen, man kann danach greifen oder es auch wieder vergessen. Ich konnte in meiner Jugendzeit einmal mit einer CVJM-Gruppe in die Alpen fahren. Das war für mich eindrucksvoll. Die Rituale, das Gottvertrauen und die Freundlichkeit untereinander, das kannte ich so nicht. Es gibt Personen, die manchmal eine Brücke bilden zurück zum Glauben oder zur Minderung der Schuldgefühle. Ein Gespräch mit einem toleranten Erwachsenen hätte mir persönlich viel erspart, auch in Bezug auf die wachsenden Zweifel: „hört mich Gott und gibt es ihn für mich überhaupt?".

baugerüst: Also sind religiöse Erfahrungen wichtig?

Moser: Ich meine, religiöse Erfahrungen können wichtig sein, aber in beide Richtungen. Sie können Menschen ermutigen wieder mehr zu glauben und sie können Menschen ermutigen zu sagen, nein danke, das ist nichts mehr für mich.

baugerüst: Welches Gottesbild ist in der Lage, Narben und Verletzungen zu vermeiden?

Moser: Da verlässt mich die Kompetenz.

baugerüst: Oder was sollte aus der biblischen Botschaft vermieden werden?

Moser: Anklagen, Schuldgefühle, das „Wehe!"

baugerüst: Gehörte dieses Wehe nicht jahrhundertelang zur Macht der Kirche?

Moser: Ja, zu der Angst erzeugenden Macht, die auch das Gottesbild verwundet und verletzt hat.

baugerüst: „Du hast unsere Seelen gepachtet", schreiben Sie in dem Buch „Gottesvergiftung."

Moser: Ich habe mal in einer Jugendstrafanstalt gearbeitet. Dort war es für manche überlebensnotwendig, Schuldgefühle zu verdrängen, weil sie keine seelische Kapazität hatten, die Schuld zu fühlen. Ein theologisches Wehe ist da gar nicht mehr notwendig. Wenn Sätze wie „Gott sieht ins Herz" oder „Gott kennt deine Gedanken" bereits verinnerlicht wurden, dann kommt das 'Wehe' automatisch. Die Kirche hat versucht diese Automatik zu installieren.

baugerüst: Was macht es mit Menschen, die sich in ihrer Religion auf einen Gefolterten, auf einen Gekreuzigten, auf einen Verletzten besinnen?

Moser: Ich finde es ein Unglück, dass diese Bilder der Ursprung unseres Christentums sind. Die Milderung vollzieht sich nur sehr langsam. Ich finde diese Opfergeschichten als ein Unglück, und es kommt hinzu, dass es Männer waren, die diese Grausamkeiten begangen haben.

baugerüst: Was geschieht mit Menschen, wenn sie auf das Kruzifix blicken?

Moser: Wenn es dem Menschen nicht gelingt, sich dagegen zu immunisieren, dann ist er verloren. Wenn er diese Theologie ganz ernst nimmt, dass dieser Jesus gestorben ist, weil er, der Mensch, ein Sünder ist, dann findet er nicht raus aus der Schuld, muss dauernd beichten oder um Gnade flehen.
Ich habe jetzt noch einmal das Neue Testament studiert, es überwiegen die Drohungen und nicht die Heilsbotschaften. Wer nicht glaubt, brät in der Hölle. Es sind grausame Verwünschungen, die da ausgesprochen werden: erlöst wird, wer zu mir kommt, die anderen sind verworfen.

baugerüst: Lässt sich bei Ihrer Sicht auf das Kreuz etwas Positives aussagen? Der auslösende Moment für das Christentum ist ja nicht das Kreuz, sondern die Auferstehung.

Moser: Das frage ich Sie. Sie haben jahrelang die Erfahrung wie das Kreuz und der Gekreuzigte ankommen. Ich bin davon überzeugt, dass eine Religion, in der so viel Grausamkeit gezeigt wird selbstverständlich auch die Einstellung zu Grausamkeiten beeinflusst. Gehen Sie weiter ihren predigenden Rettungsweg, ich gehe den therapeutischen Heilungsweg.

baugerüst: Der Rettungsweg oder Heilungsweg?

Moser: Das Christentum hat ja Selbstanalyse und Selbstkritik gefördert: Was mache ich eigentlich? Wie gehe ich mit meiner Moral um? Wie bin ich zu anderen Menschen? Ich werde weiter versuchen Menschen zu heilen, die geschädigt daraus hervorgegangen sind.

baugerüst: „In der Therapie", haben Sie einmal gesagt, „forsche ich nach den Trümmern, die Gott hinterlässt". Was kann auf diesen Trümmern wachsen?

Moser: Da fallen mir Reisebilder ein. In der Türkei oder in Griechenland wurden z.B. Steine der Theaterruinen als Baustoff für neue Wohnungen benutzt. Ebenso war es auch beim Kolosseum in Rom oder der großen Arena in Verona. So ähnlich stelle ich mir das beim Christentum auch vor. Das gigantische theologische Gebäude enthält Bruchstücke, mit denen jemand, der den Schrecken überwunden hat, weiterbauen kann. Nicht alle Trümmer bleiben Trümmer.

baugerüst: Gehört dazu auch der mitleidende Gott oder der solidarische Jesus?

Moser: Ja, das hilft Vielen. Für mich bleibt aber die Frage, warum musste Gott es mit Jesus so arrangieren? Warum brauchte es diese Grausamkeiten, um die Welt zu retten? Immer wieder tauchen solche grausamen Vernichtungen in der Bibel auf, von der Vertreibung aus dem Paradies bis hin zum Untergang fast aller Lebewesen bei der Sintflut. ?

Literaturhinweise

  • Gott auf der Couch. Neues zum Verhältnis von Psychoanalyse und Religion. Gütersloher Verlagshaus 2011. 223 Seiten. ISBN 978-3-579-06572-4
  • Der grausame Gott und seine Dienerin. Eine psychoanalytische Körperpsychotherapie. Psychosozial-Verlag, 2010. 637 Seiten. ISBN 3-8379-2087-9
  • Von der Gottesvergiftung zu einem erträglichen Gott - Psychoanalytische Überlegungen zur Religion. Kreuz-Verlag 2003. 176 S. ISBN 3-7831-2318-6
  • Gottesvergiftung. Suhrkamp Taschenbuch 1976. st 533. 101 S. ISBN 3-518-37033-2

Dr. phil. Tilmann Moser, Jahrgang 1938, ist Psychoanalytiker und Körperpsychotherapeut. Er praktiziert seit 1978 in Freiburg im Breisgau und bietet für praktizierende Therapeuten Seminare zum Thema Psychoanalyse und Körpertherapie, seelische Spätfolgen von NS-Zeit und Krieg sowie Psychotherapie und Religion an.

das baugerüst
Zeitschrift für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
in der evang. Jugendarbeit und außerschulischen Bildung
ISSN 0005-6618
Postfach 45 01 31, 90212 Nürnberg
www.baugeruest.ejb.de