Tilmann Moser

Ideal und Idealisierung

Krankheit, Widerstand oder Ermutigung

Der Psychoanalytiker Dieter Funke hat mit seinem Buch „Idealität als Krankheit?“ eine glänzende theoretische Brücke geschlagen zwischen den Polen Ideal, Ichideal, Idealisierung, Überich, Pathologie und Normalität geschlagen. Ausgehend von der „öffentlich propagierten Optimierungsstrategien“ mit ihrer „Dauermobilisierung und Steigerungsdynamik“  und Freuds Theorie des Narzissmus  untersucht  er die Zusammenhänge zwischen gesellschaftlichen und individuellen Idealen, deren Vorzügen wie deren Schrecken, wenn sie destruktiv verabsolutiertwerden. Als Theologe und kenntnisreicher Sozialpsychologe auf vielen, auch politischen wie kirchlichen Feldern spürt er den gesellschaftlichen Folgen mit dem Scharfblick des Analytikers nach, zu denen eine domestizierende, Schuld- und Versagensgefühle  verursachende, fanatisierende wie Terror verbreitetende Nutzung von Idealen führen kann, vor allen wenn narzisstische Größen- und Allmachtsfantasien damit verbunden werden.

Bei dem Verblassen religiöser Ideale treten immer innerweltliche Ideale auf den Plan, zu denen Werbung einen nicht geringen Beitrag leistet, aber eben auch die  neuen  Ideale der Selbstoptimierung, die sogar religiösen Ersatzcharakter annehmen können in der unendlichen Fixierung auf Status und Ansehen, eingeschlossen der idealisierte Körper als vorzeigbarer Triumph . Sie können durch ein Eintreten von Leere kompensatorisch überwertig werden nach dem Verlust gemeinschaftsstiftender kultureller und politischer Ideale.
Doch: „Ohne Ideale gäbe es keine Entwicklung!“.

Er plädiert begründet für die Notwendigkeit einer Erweiterung des Ichideals aus dem Freudschen Konzept des Primärnarzissmus, weil bedeutungsvolle interaktiv erworbene Identifizierungen hinzukommen müssen. Von daher auch seine fast idealisierende Darstellung der intersubjektiven neue Formen der Psychoanalyse. Geradezu glanzvoll sind seine Analysen der verabsolutierten Ideale der politisch-demokratischen Freiheit in den USA, die zu missionarisch verstandenen Kriegen führen konnten wie im Irak und Afghanistan, und dem überwertigenden Ideal der sexuellen Reinheit im Klerus der katholischen Kirche, die letzllich durch die notwendige Neurotisierung zum Ausbruch des sexuellen Missbrauch führen konnte.

Funke ist ein Aufklärer im besten Sinne des Wortes, weil er sein analytisches Instrument sowohl au Individuen, Großgruppen, Glaubensgemeinschaft und  Nationen anzuwenden vermag. Man legt sein Buch als Psychotherapeut und Psychoanalytiker dankbar aus den Hand.

Dieter Funke, Idealität als Krankheit? Über die Ambivalenz von Idealen in der postreligiösen Gesellschaft. Psychosozial-Verlag, Gießen 2016, 196 S., kart.

Tilmann Moser