Priester und Psychotherapeut, Lorenz Zellner
Eine Abrechnung mit Theologie und Kirche
Vor zwanzig Jahren schrieb der vormals begeisterte Seelsorger Lorenz Zellner nach seinem Berufswechsel zum Psychotherapeuten ein faszinierendes Buch mit dem Titel „Gottestherapie“ (2005 Kösel). Durch seine Praxis mit einer Patientenklientel von vorwiegend Kirchen- und Theologie-Geschädigten fiel ihm auf, dass die meisten mit einem düstern, strengen und drohenden Gottesbild aufgewachsen waren. Dabei macht er klar, dass sie, wenn sie haderten oder litten, nicht einen „realen“ kirchlichen oder biblischen Gott meinten, sondern sein inneres Bild in ihnen, oder das, was man in psychoanalytischer Sprache ein „Introjekt“ nennt, also einen Niederschlag von ehemals wichtigen, positiven wie in diesem Fall negativen, lebensschädigenden Personen oder Gestalten. Es ging ihm also darum, dieses Bild Gottesbild aufzuhellen, weniger belastend zu machen, oder therapeutisch gesprochen, es zu entneurotisieren. Dazu konnte auch gehören, zum alten Gottesbild auf dem leeren Stuhl zu sprechen nach den Methoden der Gestalttherapie, die verdrängten Gefühle zu erhellen, “Gott“ und die Kirche zu konfrontieren mit dem, was sie in der Seele angerichtet hatten, also auch zu wüten und anzuklagen, aber auch für das zu danken, was lebensfördernd gewesen war. Oder er arbeitete, im Sinne seiner Ausbildung, mit systemischer Therapie und sogenannten Szenen und Aufstellungen, die die Bindungen erhellen und klären.
Nun erscheint von dem über 80-jährigen ein neues Buch als theologisch-autobiographische Bilanz seines Lebensweges vom Entschluss des 12-jährigen Schülers bis zum Berufswechsel vom Priester zum Therapeuten nach einem schweren Zusammenbruch nach 25 Jahren im priesterlichen Amt. Der zunächst seltsam anmutende, fast unverständliche Titel „Rückrufaktion Apokalyptik“ wird ausführlich erklärt: Zur Zeit Jesu herrschte eine weit verbreitete Vision vom und Ängste vor dem Weltuntergang, mit all den Mahnungen und Drohungen, wie man sich am besten darauf vorbereitet, denn auch im Neuen Testament und in den Paulusbriefen gilt mahnend das Reich Gottes immer noch als nahe bevorstehend.
Diese sowohl Verlockung wie Drohung hat auch in die christliche Sündenlehre und die Strafvorstellung direkt und indirekt Eingang gefunden und Ängste gefördert, und Zellner weist nach, wie sehr die Drohung in der Kirchengeschichte weitergewirkt hat, in manchen Aspekten bis heute. Diese Theologie hat auch Zellners Lebensweg in das Priesteramt und aus ihm heraus in die systemische Psychotherapie bestimmt. Mit seiner ergreifend geschriebenen Biographie wird er ein Zeitzeuge des Umgangs der Kirche – sowohl durch Kollegen wie durch Kirchenobere - , auch des Leids, das weitergegeben wird an Menschen wie an Priester, die von der vorgeschriebenen Glaubenslinie abweichen, mit Zweifeln kämpfen und die dunkle Rückseite der als siegreich und strahlend dargestellten Institution aus dem Blickwinkel des eigenen Erlebens darstellen oder Rat in der Krise suchen.
„Auslöser für die Aufgabe des spannendsten und erfüllendsten Berufes, den es für mich gibt, war eine totale körperlich-seelische Erschöpfung, die mich bis ins Mark erschütterte und in der meine Nöte mit ´Gott` und meine Nöte mit dem kirchlichen Priesterideal offenkundig wurden.“ Jahrelang wurde seine Gefühle wie die Symptom von Ärzten mit Medikament ruhiggestellt, bis er sich traute, sich den tieferen Ursachen zu stellen. „Es gab also vorher nur eine medikamentös vermittelte Sicherheit. … Es war ein Drama und ein Trauma, dieser Zusammenbruch nach dem Absetzen der Medikamente.“ denn: Denn „Allmählich wurde mir immer klarer, was noch fehlte, nämlich die ganze Wahrheit über die Wurzeln meiner frühkindlichen Religiosität und die ganze Wahrheit über meinen Weg ins Priestertum“, den er mit ahnungsloser Idealsierung antrat, einschließlich der Verehrung der „zölibatären Lebensweise“, die, wie er erschrocken entdeckte, zu einer Unkultur des Schweigens und der Heimlichkeit führte. Deshalb sein mühsam entdecktes Programm, für das er, aus großer Scheu kommend, enormen Mut brauchte, um sich zu outen: „Der Fokus meiner Intension liegt also auf der Sensibilisierung, pathologische Element im Religiösen zu erkennen und ihnen prophylaktisch entgegen zu treten.“
Ein besonderes Kapitel ist dem religiösen Wahn um die „Geheimnisse von Fatima“, einer angeblichen Marienerscheinung gewidmet, dem auch hohe Kirchenvertreter anheimfielen, auch angesichts der früh und neurotisch von ihm aufgenommenen apokalyptischen Drohungen, die ihn selbst erschütterten: „Wenn ich gerettet werden will, muss ich Priester werden.“ „Solche Menschen braucht Gott“, redete ihm ein verehrter früher Priester ein, und daraus entstand die nicht mehr korrigierbare „Berufung“, aus der er sich nach dankbar erlebten, aber sich allmählich verdüsternden Jahrzehnten sich unter endlosen Qualen befreien musste. Was er schon auf der ersten Kaplanstelle an Einblick mitbekam, hat seine Größenphantasien noch angestachelt, es alles dem Ideal entsprechend zu gestalten, bis zum Zusammenbruch. Er erhielt Einblick in bischöfliche Akten und bekam das Ausmaß der Vertuschung dunkler Geheimnisse mit. Dies alles wird so glaubwürdig und authentisch vorgetragen, dass man auch das Maß der Scham versteht, mit der alles umgeben war, Scham über sich selbst und Scham über die Kirche, die so wenig seelsorgerlich reagierte auf seine und die vielen Lebensnöte des pastoralen Klerus. „Objektiv war dieses Management eine Katastrophe.“ „Es gab keinen Ansprechpartner über Erfahrungen und Fehler, über mein weiteres Wirken, über Theologie, Seelsorge und Therapie, es kam zu wahnwitzigen Kontaktwarnungen vor mir, scheinbar um theologisches Gedankengut zu schützen …“ Es droht totale Isolierung, außer bei wenigen rettenden Freunden. Er wurde offiziell als „fanatischer Aufklärer“ verdächtig. „Oder man bekommt das Etikett der Selbstherrlichkeit, der Selbstbemitleidung, der Ungläubigkeit … aufgeklebt.“ Doch: „Mein Schicksal ist kein Einzelfall.“, und so schreibt er nicht nur für viele Gläubigen und Zweifler, sondern auch für seine ehemaligen „Mitbrüder“, rettet aber für sich einen eigenen tiefen Glauben, den er „salutogen“ nennt, und findet das versöhnliche Wort, trotz allem Leid und auch fortdauerndem Groll: „Ein Trauma muss nicht alles zerstören, was in uns ist.“
Er hält als Bilanz fest: „dass ich meine Religion in ihren schönsten und starken Seiten, aber auch in ihren schwachen und hässlichen erlebt habe. Ich habe sie und ihr Ausübung nicht nur konstruktiv, befreiend, aufbauend, sondern auch destruktiv, leidvoll und niederschmettern erlebt.“ Natürlich spricht er auch über den weltweiten Missbrauch von Kindern durch Priester und die Vertuschungsversuche, neben den reuevollen Eingeständnissen des Versagens, die er als positive Veränderung anerkennt, sondern er schließt eine große Zahl von Kollegen ein in die Reihe der Missbrauchten, für das, was sie aushalten, zweifelnd predigen, beschweigen, beschönigen und verteidigen müssen. Zellers Text ist ein mahnender, aber auch ein aufbauender Text, weil er noch immer an die Veränderbarkeit der Verhältnisse glaubt.
Lorenz Zellner: Rückrufaktion Apokalyptik, epubli GmbH 2016, 136 S.
Tilmann Moser