Tilmann Moser

Die Bedeutung der Hand in der analytischen Körperpsychotherapie

2011

Verliebt spielen Mütter und Väter mit den kleinen Händchen ihrer Babys und Kleinkinder. Sie genießen es, wenn sich die Fingerchen um den großen Daumen schließen, das Greifen lernen und Halt suchen für erste Übungen des Sich-Aufrichtens. Die elterlichen Hände bedeuten viel: Zufuhr von Wärme, Sicherheit und Geborgenheit, formgebende Massage; Turngeräte; Krangreifer zum Hochheben und Aufsammeln nach einem Sturz; Beruhigung in den Stürmen überstarker Gefühle. Sie sind Symbole der verschiedensten Formen von Nähe, des Festhaltens wie des Freigebens; leider auch Werkzeuge des Strafens wie des Streichelns, der Zärtlichkeiten wie der Übergriffe. Sie können kitzeln, kraulen und tätscheln, schlagen und wiedergutmachen. Sensible Dichter haben Poeme verfasst über Mutters Hände und Vaters Fäuste oder schwielige Pranken. Elternhände spiegeln das ganze kindliche Beziehungsschicksal, vom ersten vorsichtigen Greifen bis zum Spazieren an der Hand, vom Loslassen bis zu eiligen Rückkehr zu haltendem Trost und zur zielstrebigen Führung.

Patienten bringen ihre Hände mit in die Psychotherapie. In der klassischen Psychoanalyse bleiben sie unberührt, bis auf das meist kurze Handdrücken bei der Begrüßung oder dem Abschied. Man kann über die Hände sprechen, über frühes Glück und über Hände zugefügtes Leid. Aber beim Gegenüber oder auf der Couch bleiben sie untätig, werden nicht mehr berührt, berühren nur noch den eigenen Körper, nesteln an der Kleidung, streichen Trost suchend über den eigenen Mund, halten di Wange oder den schweren Kopf, halten sich aneinander fest, geraten ins Schwitzen oder ins Frieren, umklammern mit Hilfe der Arme die eigenen Schultern oder schließen sich angestrengt und Halt gebend oder suchend um die eigene Brust, auch um Angst zu verbergen oder Trotz zu signalisieren. Manchmal wollen sie sich zur Faust ballen, manchmal werden sie heiß vor Sehnsucht oder stoßen unhörbare Hilfeschreie aus, nach Nähe, Rettung oder der Vergewisserung, dass das Gegenüber wirklich aus Fleisch und Blut ist und nicht nur Übertragungsattrappe.

Für orthodoxe Analytiker bedeutet ein Überlassen der Hand des Therapeuten schon Sexualisierung, Übergriff und Manipulation. Die Berührungsscheu hat merkwürdige Blüten getrieben, Freuds Angst vor den erotischen Eskapaden vieler seiner Schüler hat zu einem Regelwerk der Abstinenz geführt, das spätere Generation noch ausgeweitet haben. In den ethischen Richtlinien mancher therapeutischer Schulen ist Berührung als Hilfsinstrument der Behandlung untersagt, die Hände gelten, wenn aufliegend oder zugreifend, als gefährlich, ihr aktiver wie passiver Gebrauch ist tabu.

Die engherzige, ängstliche, jeden Körperkontakt vermeidende Abstinenz kann retraumatisierend wirken: Es gibt eine verzweifelte, ja kosmische Einsamkeit bei manchen Störungen, die nicht durch die warmherzigste, wohlwollendste Empathie in der Stimme gemildert oder gar geheilt werden kann. Sie kann die unbewusste oder bewusstseinsnahe Überzeugung verstärken, der eigene Körper sei abstoßend, räudig oder sonst wie ekelhaft, und der Analytiker hüte sich aus diesem Grund vor jeder Berührung. Es gibt Patienten, die sich in ihrer unerfüllbaren Sehnsucht, aus elterlicher Kälte und Vernachlässigung entstanden, sogar mit den indischen „Unberührbaren" identifizieren, und manche finden, da sie das liebevolle und auch Grenzen setzende, Struktur bildende Berühren nie gelernt haben, nie zu liebevollem Kontakt mit einem Partner, und sie geben ihre erlittene Kargheit weiter an ihre Kinder. Es geht nicht um Verwöhnung und Wiedergutmachung, sondern um in angemessener Regression erlebte Modellszenen, die verinnerlicht werden können. Es gibt Patienten, die andere Menschen, oder gar den unsichtbaren Analytiker, nicht als wirklich und „leibhaftig" erleben können, wenn jede Berührung ausbliebt inder Regression ausbleibt. Deshalb wird der Begrüßungs- und Abschiedshändedruck über bewertet, ja fetischisiert, um Bruchteile von Sekunden verlängert, auf Nuancen seiner angebotenen Dauer analysiert. Deshalb auch das Grübeln solcher Patienten über das Handgeben, das in einigen Phasen der amerikanischen Psychoanalyse sogar unterlassen werden musste, um eine gefährliche Erotisierung zu vermeiden. Von der orthodoxen Abstinenz zur kühlen Sterilität war es nur ein kurzer Weg. Prüderie und leibfeindliche Ängstlichkeit spielten sich in die Hände, inmitten einer Gesellschaft, die Erotik und Sexualität hysterisierte und schließlich in der Werbung allgegenwärtig machte. Die universell gewordene anzügliche Witzkultur über die Psychoanalyse zeugt in ihren Überresten noch heute von den künstlich aufgeheizten Phantasien.

Zurück zur Hand: Gerade Menschen, die Übergriffe oder Missbrauch erlebt haben, spüren genau, ob und wie viel echte Abstinenz in der Hand eines Therapeuten steckt. Gefahr bestünde höchstens in der durch Einschwörungen erzeugten Wehrlosigkeit, wenn ein Therapeut uneindeutig und nicht aus der sicheren Kenntnis seines Mutter- oder Vaterkörpers heraus berührt.. Deshalb ist es Pflicht des berührenden Analytikers, sich immer wieder durch Fragen zu orientieren, wie eine Berührung empfunden wird. Aber vor der Berührung gibt es die Phase der Vorbereitung, des Vorausphantasierens, der biographischen Erforschung der familiären Berührungsgeschichte, des Umgangs mit dem Körper durch Eltern, Großeltern, Geschwistern und anderen bedeutungsvollen "Anderen".
Die Berührung durch die Hand ist das Angebot eines erweiterten Containers für alle Gefühle, erst recht, wenn sie dem Patienten noch unvertraut sind, wenn er ihre unbekannte Heftigkeit fürchte und Angst hat vor ihrer aufgestauten und lange verdrängten Wucht. Deshalb ist eine in der richtigen Atmosphäre der bedeutungsvollste Tränenlöser, der für viele Patienten erst das lange verschlossene Tor zum Weinen öffnet. Erst eine angebotene Hand kann Verwirrung, Agitiertsein, Angst und Wut wie Verzweiflung, aber auch verschämt verdrängte Freude so weit hervorlocken, aber auch mildern, dass darüber auch wieder sprachlich verhandelt werden kann, wenn das Fühlen erst einmal erfolgen durfte.

Männer neigen eher dazu, „Händchenhalten" unter Männer für komisch, wenn nicht für zwielichtig zu halten. Vor allem bei latenter Homoerotik und Homosexualität sind mildere oder stärkere vorübergehende Schreckreaktionen möglich. „Meinen Sie das ernst?", lauter manche Frage, und der Therapeut fragt sich erschreckt für kurze Momente, ob er zu wenig Vorbereitung getroffen oder sich verschätzt hat in der Vorerfahrung des Patienten mit Übergriffen oder Missbrauch. Aber er wird belohnt, wenn der spontan zurück Zuckende dann sich einlässt auf eine väterliche Hand, die er vielleicht viel zu wenig gespürt hat in seinem frühen Leben. Er wird dann dafür rascher als ein schüchternes Mädchen prüfen, ob in der Hand des Analytikers auch Kraft und Wärme lebt.

Die Kunst der Annäherung

Wenn ich das Hand-Reichen oder Hand-Geben oder Hand-Auflegen in Supervisionsseminaren mit Psychotherapeuten oder Analytikern üben lasse – es lohnt sich, hier die Differenz zu beachten, davon später – lassen sich ganz verschiedene Reaktionen beobachten. Manchen ist der Vorgang komplett neu, und entsprechen zögern sie, oder aber sie greifen viel zu schnell und kontraphobisch zu, überspringen dabei tapfer ihre Scheu und ihre eingeübten Bedenken. Peinlich, wenn sie dann bei der Rückfrage beim rollenspielenden Kollegen als Patienten zu hören bekommen, das Angebot habe sie überfallartig überkommen und sie hätten zu wenig Zeit „zum Vorausfühlen und Nachfühlen" gehabt. Deshalb zuerst noch einmal die gängigsten vorbereitenden Frage, die der anbietende Therapeut der Atmosphäre, der Stufe der Regression und seinem Gegenübertragungserleben entnommen hat: „Können Sie sich vorstellen, das ich Ihr Hand nehmen?", als einfache Anfrage. Oder: "Ich habe gesehen, wie sich bei Ihnen eine Hand an der anderen festhält.

Könnte ich da einmal machen mit einer Ihrer Hände?"" Oder: „Darf ich einmal meine Hand in Bereitschaft neben Sie legen? Dann können Sie sie nehmen, wenn Sie wollen?" Oder:; „Habe ich das recht gesehen, dass Ihre Hand nach meiner winkt, vielleicht ohne dass Sie es gemerkt haben?" „Was macht da Angebot mit Ihnen? Kommt es einem Wunsch oder einer Stimmung entgegen?" Bei Depressiven ist so sogar wichtig zu fragen, ob sie auch ablehnen dürften. Denn in ihrer Verlorenheit und Fügsamkeit sind sie oft überschnell bereit, ohne gründliche Vorprüfung der eigenen Reaktion. Bei ihnen staunt man über die Erfahrung, dass sie scheu es sich längst gewünscht haben. Ein Patient meinte einmal, fast unwillig: „Na endlich!".

Er war gekommen in körpertherapeutischer Hoffnung auf Berührung, entweder mit Vorerfahrung oder mit dem typischen Gefühl, halb verhungert eine klassische Therapie oder Analyse in unerfüllter Sehnsucht, die ja vollkommen verdrängt sein kann, beendet zu haben oder noch in ihr zu schmachten. (Weitere Überlegungen und Vorschläge finden sich in meinem Taschenbuch „Berührung auf der Couch, Formen der analytischen Körperpsychotherapie", Suhrkamp, Frankfurt 2001)

Oft schon ist die Annäherung an die erste Berührung ein spannendes Ereignis: meine Hand liegt auf dem Rand der Couch bereit, der Patient kann sich mit seiner Hand oder den Fingern meiner Hand nähern. Oder meine Hand liegt, bei einer Therapieim Sitzen, auf einem Kissen auf meinem Knie. Die Gefühle des Näherkommens sind enorm wichtig, weil sie die Ängste und die Hemmungen enthalten, sowie die Sehnsucht und die Wünsche nach Tempo oder unruhiger Verzögerung, einschließlich der Angstlust vor dem Gelingen. Beide Partner können das prickelnde Verstreichen der Zeit genießen, der Patient seine Autonomie in der Annäherung oder im Zögern. Die Berührung kann sich von einem vorsichtigen Anstupfen der Fingerspitzen bis zu einem beherzten Zugreifen zur ganzen Hand und ein neugieriges Untersuchen derselben.

Wichtig ist die Umkehrung der Initiative, der Therapeut fragt: „Darf ich mich langsam ihrer Hand nähern?" Imitiert der Therapeut bei der Annäherung mit seiner Hand einen herankrabbelnden Käfer, so weckt das unmittelbar frühe Angstlust mit der Gefahr eines Gefangen-Werdens oder eins Überfalls.
Zu den „Übungen" mit Kraft und Widerstand s. noch einmal „Berührung auf der Couch", vor allem die energetisierende Wirkung eines festen Zugriffs auch auf beide Hände, mit dem Angebot, die eigene Kraft zu zeigen, an der Faust des Therapeuten zu rütteln, oder ihm die Kraft zu zeigen, wenn es ums schieben im Stehen geht. Dem Experimentieren sind kaum Grenzen gesetzt, ein deutliches rasches Stopp beendet eine Übung, die zu aggressiv zu werden droht oder die von der vereinbarten Form der Berührung überraschend oder listig abeichen will.

Denn es wird immer wieder Patienten geben, die aus einer rivalisierenden Geschwistergeschichte heraus tricksen und täuschen wollen, um ein Unterlegenheitsgefühl zu unterlaufen. Wichtig bleibt immer zusagen, dass es nicht um Sieg oder Niederlage, Triumph oder Demütigung geht, sondern um elterlichen Halt bei der Erprobung der eigenen Kräfte. Natürlich muss der Therapeut, vor allem die Therapeutin abschätzen, wie viel Halte-Kraft ihr zur Verfügung steht.

Die dargebotene Hand vermittelt eine biologische wie eine symbolische Botschaft: Ich bin dir gewogen, nicht feindlich gesonnen, ich kann dich ertragen, auch wenn du feindlich gesonnen bist. Ich verlasse dich nicht, dein Körper und damit dein Körperselbst ist mir nicht zuwider, auch wenn du zutiefst wütend auf mich bist, ja mich hasst. Dies ist, neben den mehr schützenden, die positiven Zuwendungsaffekte verstärkenden Botschaften die wichtigste Mitteilung: Es bleibt neben aller Feindschaft eine basale positive Verbindung erhalten, die bei einer durchweg negativen und die Beziehung potentiell total gefährdenden Grundübertragung von allem gegenüber dem unsichtbaren und unberührbaren Analytiker ein zweites Band, die ein archaisches Arbeitsbündnis garantiert und gegen die archaische Angst völliger Verlorenheit ankämpft.

Sie fördert die Gewissheit, das die Welt nicht aus Bosheit und Feindschaft besteht und mildert paranoide Ängste vor Vernichtung und Zerfall, ja selbst vor totalem Selbstverlust, weil auch der Andere nicht verloren geht und sogar vorübergehend als überlebender Teil des eigene Selbst wahrgenommen werden kann.